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14.04.2019 | (rsn) - Lange lag er seiner Frau Annike im Arm, und als Nils Politt dann fürs erste Fernseh-Interview mit der ARD seine Brille abnahm, wischte er zunächst ein paar Tränen weg, bevor er zu sprechen begann. Doch diese entsprangen nicht etwa einer Enttäuschung ob des knapp verpassten Sieges bei Paris-Roubaix, sondern der riesigen Freude über Rang zwei bei der Königin der Klassiker - dem Höhepunkt seiner Karriere, bisher.
"Ich bin ziemlich emotional, das muss ich ganz ehrlich sagen", sagte der Hürther dann. "Zweiter in Roubaix zu werden, das ist unglaublich. Gegen Philippe Gilbert zu verlieren ist keine Schande, und ich bin einfach glücklich, dass ich mich einfach etwas getraut habe. Als ich am vorletzten Pavé losgefahren bin, dachte ich: Alles oder nichts!"
Auf dem vorletzten echten, offiziell dem drittletzten Pavé-Sektor namens Gruson - der letzte, harmlose Sektor in Roubaix selbst wird oft nicht als solcher betrachtet - drückte Politt an der Spitze der zu diesem Zeitpunkt nur noch fünfköpfigen Spitzengruppe aufs Gas und sorgte für die Vorentscheidung. Nur noch Gilbert konnte ihm folgen, und von da an wurde es zu einem Duell um den Sieg.
Wer hat hier eigentlich die Erfahrung?
Politt, 25-jährig, bei seinem vierten Paris-Roubaix als Vorjahressiebter gegen Gilbert, 36-jährig bei seinem erst dritten Paris-Roubaix als 15. des Vorjahres: Je nach Sichtweise hätte man dem einen oder auch dem anderen in Sachen Erfahrung einen Vorteil zusprechen können - gerade im Velodrom, wo Politt 2018 bereits einen Gruppensprint um Platz sieben gewann.
Am Ende verpasste Politt dort diesmal wohl um eine Sekunde den richtigen Moment, seinen Sprint zu starten und von der Außen- auf die Innenbahn zu wechseln, um Schwung zu holen und Fahrt aufzunehmen. Doch nach 257 Kilometern und mit Gilbert am Hinterrad sowie dessen Teamkollege Yves Lampaert nur wenige Sekunden dahinter im Nacken war das Taktieren vor dem entscheidenden Sprint schwer.
"Ich wollte meinen Sprint von hinten fahren, aber er hat mich nicht in diese Position gelassen. Gilbert hatte den kleinen Vorteil, dass Lampaert von hinten kam und ich dort auch ein Auge haben musste", erklärte Politt später. "Als ich meinen Sprint beginnen wollte, war er schon an meiner Seite, und hatte dann auch den besseren Punch."
"Das ist mein Rennen!"
Doch zu viele Gedanken wollte und sollte Politt in Roubaix an das Wort 'Niederlage' nicht verschwenden. Denn ein zweiter Platz bei Paris-Roubaix, im Alter von 25 Jahren beim vierten Start bei der Königin der Klassiker, das war ein riesiger Erfolg für den Hürther - vor allem wenn man sieht, wie er das von Beginn an schnelle und harte Rennen gefahren ist und es bestimmt hat: bei jeder wichtigen Szene im Bilde, und am Ende noch deutlich mehr Power als die auf dem Zahnfleisch kriechenden Klassiker-Stars.
"Wenn mir das vor dem Start jemand gesagt, hätte, hätte ich geantwortet: 'Jaaa, wer's glaubt wird selig!'", erzählte Politt nach dem Rennen mit Blick auf Platz 2. Für den Hürther, der die Kopfsteinpflasterrennen schon seit den Nachwuchsklassen liebt, ist mit dem Podium ein Traum in Erfüllung gegangen: "Paris-Roubaix ist für mich ein besonderes Pflaster. Bei meinem ersten Rennen hier, da war ich 21, bin ich fünf Mal gestürzt und konnte nicht bis zum Ende fahren. Ich habe aber gedacht: Ja, das ist mein Rennen!"
An diesem 14. April 2019 machte er das wahr. Denn es war tatsächlich sein Rennen. Das Rennen des Nils Politt. Er nahm es von Anfang an in die Hand, besaß es regelrecht. "Es ist unglaublich, was ich da vorn für ein Rennen gefahren bin", schien er selbst fast geschockt von seinem Auftritt. Denn schon bevor es zum ersten der insgesamt 29 Kopfsteinpflastersektoren ging, begab sich Politt gemeinsam mit Teamkollege Marco Haller in eine große Spitzengruppe, zu der unter anderem auch der spätere Drittplatzierte Lampaert gehörte.
Cleverer Sprung in frühe Gruppe: weniger Stress!
Bei anderen Rennen könnte man meinen, das sei ein unnötiger Kraftaufwand gewesen. Doch die Klassiker sind speziell. "Paris-Roubaix wird anders gefahren. Das startet quasi bei Kilometer 0. Man weiß nie, wann die entscheidende Gruppe geht", erklärte Politt, und auch Haller pflichtete bei: "Bei Roubaix gibt es kein zu früh. Wenn die Gruppe die richtige Konstellation hat, kann man weit kommen. Wir sind heute viel Chaos aus dem Weg gegangen und haben ein grandioses Resultat eingefahren."
Der Sprung in die Gruppe, er war für Politt der erste Schritt in Richtung Podium im Velodrom. "Auf diese Weise musste ich nicht um meine Position im Feld kämpfen, konnte in Ruhe über die Sektoren fahren. Ich hatte ja Marco Haller mit vorn. Es war ohne Stress. Das war ein Vorteil, den ich auf jeden Fall hatte", versicherte auch er, dass er vorne nicht mehr sondern eher weniger Energie brauchte als das im Hauptfeld der Fall gewesen wäre.
Politt sorgte für die Entscheidung
Die Gruppe wurde zwar nach einigen Pflaster-Sektoren wieder eingeholt, doch Politt behielt das Zepter in der Hand. Rund 67 Kilometer vor dem Ziel attackierte er in der Verpflegungszone und nahm sowohl Gilbert als auch Rüdiger Selig (Bora - hansgrohe) mit. Letzterer konnte bald nicht mehr folgen, und gut zehn Kilometer später erkannte Politt, dass mit Titelverteidiger Peter Sagan (Bora - hansgrohe), Sep Vanmarcke (EF Education First) und Wout Van Aert (Jumbo - Visma) sowie einigen wenigen anderen von hinten eine starke Gruppe näher kam.Â
Anstatt mit der Brechstange zu versuchen, mit Gilbert vorne zu bleiben, ließ Politt kurz locker und sich in die Gruppe zurückfallen, um dort kraftsparender fahren zu können. Kurz darauf hatten sie auch Gilbert wieder eingeholt - wieder alles richtig gemacht.
Als der Belgier 23 Kilometer vor dem Ziel im Sektor 6 dann das Finale eröffnete, war Politt auf der Hut, sprang genau wie Sagan sofort ans Rad. In dieser Phase platzte zunächst Van Aert weg, und auch Vanmarcke sowie Lampaert hatten sichtbar zu kämpfen. Auf dem gefürchteten Carrefour de l'Arbre (Sektor 4) hing Politt kurzzeitig hinter dem von diesem Moment an mit Schaltungsproblemen kämpfenden Vanmarcke fest, doch schon kurz darauf ging er auf dem Pavé de Gruson selbst entscheidend in die Offensive und ritt jene Attacke, die das Rennen entschied und auf die er später so stolz war.
Großes Lob von Gilbert und Demol
Auch wenn er Gilbert auf den letzten 200 Metern den Vortritt lassen musste, Politt hat bei der 117. Austragung von Paris-Roubaix sein Meisterstück abgelegt und ist endgültig in die absolute Weltspitze der Klassikerfahrer vorgedrungen. "Wir hätten heute beide den Sieg verdient", verneigte sich auch Gilbert vor der Leistung und dem Auftritt seines Kontrahenten. "Er ist keiner, der kalkuliert, sondern leistet seinen Anteil an der Führungsarbeit zu 100%. Deshalb konnten wir vorne bleiben."
Und Katusha - Alpecin-Sportdirektor Dirk Demol meinte: "Ich glaube nicht, dass er heute irgendeinen Fehler gemacht hat. Er hat die Kapazitäten, in Zukunft ein Monument zu gewinnen. Wenn er noch zwei, drei Prozent stärker wird und das Selbstvertrauen mitbringt, dass er sich heute geholt hat, dann kann er zurückkommen um noch mehr zu erreichen!"
Zunächst aber geht es für Nils und Annike Politt nun für eine Woche in den Urlaub - wohlverdient nach einem fulminanten Frühjahr mit einem zweiten Platz im Einzelzeitfahren bei Paris-Nizza, einem sechsten Rang beim E3 Classic, Platz fünf bei der Flandern-Rundfahrt und nun dem zweiten Platz in Roubaix - an "einem der schönsten Tage für mich auf dem Rad", wie Politt es sagte.
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