RSNplusSlowene jagt den nächsten Rekord

Pogacar-Sieg in Lüttich wäre einmalig in der Geschichte

Von Daniel Brickwedde

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Tadej Pogacar (UAE Team Emirates, links) mit seinen Teamkollegen bei der Streckenbesichtigung von Lüttich-Bastogne-Lüttich an La Redoute. | Foto: Cor Vos

23.04.2023  |  (rsn) - Geschehen große Dinge im Radsport, ist ein Statement vom bislang größten Radsportler aller Zeiten oft nicht weit. Dieses Mal war es die französische Sportzeitung "L'Équipe", die Eddy Merckx kurz nach dem Sieg von Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) bei der Flandern-Rundfahrt telefonisch erreichte. Und was sollte Merckx da schon sagen? Es war zweifellos ein beeindruckender Erfolg des Slowenen, also wählte Merckx auch nur großzügige Worte á la: "Er ist direkt in die Geschichte gefahren."

Dabei muss der 77-Jährige inzwischen befürchten, dass er seine unzähligen Bestmarken, die eigentlich für die Ewigkeiten bestimmt waren, bald mit Pogacar teilen muss – wenn dieser ihn nicht sogar überflügelt. Das Tempo, mit dem Pogacar in die Radsport-Geschichte eindringt, ist zumindest bemerkenswert. Beispielsweise ist er nun eben ein Tour-de-France-Sieger, der ebenfalls die Flandern-Rundfahrt gewinnt: Das erreichten zuvor nur der Franzose Louison Bobet und eben Merckx – und galt bis vor einigen Jahren im Radsport des neuen Jahrhunderts noch als undenkbar.

___STEADY_PAYWALL___ Ein Sieg bei der "Ronde"? Dafür braucht es jahrelange Erfahrung sowie Kenntnisse über jeden Anstieg, jede Straße und jede Kurve, hieß es stets von den Radsport-Gelehrten. Offensichtlich reicht es aber auch, wenn man der mit Abstand stärkste Fahrer ist: Der 24-jährige Pogacar gewann das Rennen nach Platz vier im Vorjahr nun bei seiner zweiten Teilnahme.

Sieger der Flandern-Rundfahrt selten bei Lüttich-Bastogne-Lüttich am Start

Bei Paris-Roubaix ließ er die Konkurrenz anschließend in Ruhe, kehrte erst zu den Ardennen-Klassikern in den Rennbetrieb zurück. Die Gegner sind nun andere, das Resultat aber das Gleiche: Sieg für Pogacar, sowohl beim Amstel Gold Race als auch beim Flèche Wallonne. Einfach, weil er so viel besser ist als der Rest. Die Erkenntnis ist nicht neu, wurde in den vergangenen Wochen aber noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich kann Pogacar nun erneut Geschichte schreiben und zum erst dritten Fahrer werden, dem das Ardennen-Triple gelingt, nach Davide Rebellin 2004 und Philippe Gilbert 2011. Doch nicht nur das, er könnte auch etwas Einmaliges erreichen.

Pogacar allein auf dem Weg zum großen Triumph bei der Flandern-Rundfahrt - hier am Paterberg. | Foto: Cor Vos

Zwei Monumente in einer Saison zu gewinnen, ein sogenanntes Double, ist ein Maßstab für die ganz Großen des Sports. Mit Ausnahme von Merckx war dies jedoch seit den 1960ern einzig den Klassikerspezialisten vorbehalten; keine Domäne für einen Tour-Sieger – selbst Bernard Hinault blieb das verwehrt. Pogacar gelang das Kunststück allerdings bereits 2021 mit Siegen in Lüttich und bei Il Lombardia – zusätzlich zum Gelben Trikot bei der Tour de France. Ein Double aus der Flandern-Rundfahrt und Lüttich-Bastogne-Lüttich wäre allerdings noch einmal ein anderes Niveau, da bislang fast nie erreicht und zuletzt kaum vereinbar.

Dafür reicht der Blick in die Siegerlisten der vergangenen 15 Jahre. Nur drei Sieger der Flandern-Rundfahrt gingen im selben Jahr auch in Lüttich an den Start: Einzig Mathieu van der Poel erreichte mit Platz sechs im Jahr 2020 dort ebenfalls ein gutes Resultat – wobei aufgrund der Pandemie Lüttich-Bastogne-Lüttich damals im Kalender vor der Ronde stattfand. Die beiden anderen Doppelstarter Alberto Bettiol (2019) und Nick Nuyens (2011) kamen in Lüttich nicht ins Ziel. Andersherum nahmen seit 2007 nur zwei Fahrer im Vorfeld ihres Lüttich-Sieges an der Flandern-Rundfahrt teil: Maxim Iglinski 2012 mit Platz 23 bei der Ronde sowie Philippe Gilbert, der vor seinem späteren Ardennen-Triple 2011 in Flandern Platz neun erreichte.

Nur Merckx gelang das Double aus Ronde und Lüttich

Dass die Flandern-Rundfahrt und Lüttich-Bastogne-Lüttich schwierig zu kombinieren sind, liegt zum Teil am Zeitraum zwischen beiden Rennen. Die flämische Klassikersaison nimmt im März Fahrt auf und endet mit der Ronde zumeist am ersten Aprilwochenende, Lüttich steht in der Regel noch einmal drei Wochen später an. Auf beiden Gebieten, sowohl in Flandern als auch in den Ardennen, in Topform zu sein, ist eine Herausforderung – und war zuletzt unter den Topfahrern gar nicht angestrebt. Das Amstel Gold Race passte zwar für einige noch in den Rennkalender, danach war aber die Luft raus. Fabian Cancellara stand beispielsweise kein einziges Mal in seiner Karriere in Lüttich am Start, Peter Sagan ebenfalls nicht. Die Priorität lag meist auf einer belgischen Region: entweder Flandern oder Wallonien.

Der (noch) jüngste Sieg: Pogacar und seine stets aus dem Helm herausragende Strähne auf dem Weg zum Sieg beim Fleche Wallonne am Mittwoch. | Foto: Cor Vos

Ausnahmen gab es in den vergangenen Jahren nur wenige. Julian Alaphilippe (Soudal – Quick-Step) probierte es zuletzt mit Starts in Flandern, kam aber nicht an seine Erfolge in den Ardennen heran. Im Prinzip gelang nur Gilbert der erfolgreiche Spagat, der während seiner Karriere im Frühjahr oft Rennen in Flandern und den Ardennen bestritt. Er ist zudem einer von 14 Fahrern, die beide Monumente gewannen: 2011 siegte Gilbert in Lüttich, 2017 bei der Flandern-Rundfahrt. Zuvor erreichten das unter anderem Michele Bartoli, Adrie van der Poel, Roger De Vlaeminck, Walter Godefroot oder Rik Van Looy – allerdings nie innerhalb eines Jahres. Das Double in einer Saison vollbrachte bislang einzig Eddy Merckx in den Jahren 1969 und 1975. Pogacar wäre der zweite Fahrer, dem das gelingt.

Beide Rennen haben ihre Charakteristik. Flandern begünstigt kräftige, robuste Spezialisten für ruppige Bedingungen, unberechenbares Wetter und Kopfsteinpflaster – Fahrer der Marke Tom Boonen, Cancellara, Niki Terpstra oder Alexander Kristoff. Lüttich ist hingegen wie eine Bergetappe konzipiert, besteht nur aus Steigung und Gefälle und beinhaltet 4.500 Höhenmeter. Es ist ein Terrain für spritzige, kletteraffine Fahrer, die nicht selten auch bei den Grand Tours vorne mitmischten – wie einst Alejandro Valverde, Joaquim Rodriguez, Dan Martin oder zuletzt Primoz Roglic und Remco Evenepoel. In die Quere kamen sich beide Fahrergruppen bei den Klassikern bislang nur selten. Jeder konzentrierte sich auf seine Stärken. Pogacar hingegen kann fast alles.

In Lüttich kann Pogacar schon schaffen, was Merckx nie gelang

Gleiches gilt in Zukunft womöglich auch für Mathieu van der Poel (Alpecin - Deceuninck) und Wout Van Aert (Jumbo – Visma) oder Tom Pidcock (Ineos Grenadiers) – alle drei ebenfalls mit Ausnahme-Fähigkeiten ausgestattet. Dieses Mal steht von ihnen in Lüttich nur der Brite am Start. Im Vorjahr landete Van Aert allerdings als Dritter bereits auf dem Podium bei Lüttich-Bastogne-Lüttich, er fehlte zuvor jedoch krankheitsbedingt bei der Ronde.

Zweimal hat Tadej Pogacar die Tour de France bereits gewonnen: 2020 und 2021. | Foto: Cor Vos

Der Unterschied: van der Poel und Van Aert kämpfen nicht zusätzlich noch um Grand-Tour-Siege - Pidcock tut das bislang ebenfalls nicht, auch wenn viele ihm das künftig zutrauen. Pogacar hingegen hat die Tour de France bereits zweimal gewonnen. Das setzt ihn in ganz andere Sphären.

Er ist ein Fahrertyp, den der Radsport seit Jahrzehnten nicht mehr kannte, ein Alles-Sieger für jedes Terrain. Einer wie Merckx, dessen Uralt-Bestmarken Pogacar nun nach und nach einstellt – und sogar neue aufstellt. Der Sieg bei der Flandern-Rundfahrt plus das Ardennen-Triple aus Siegen beim Amstel Gold Race, dem Wallonischen Pfeil und Lüttich-Bastogne-Lüttich in einem Kalenderjahr: Das gelang noch keinem Fahrer, selbst Merckx nicht. Gut möglich, dass beim Belgier am Sonntagnachmittag wieder das Telefon klingelt und man ihn um eine Lobeshymne bittet - samt Verneigung.

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