Andreas Schulz-Blog

Tour am Tiefpunkt

Von Andreas Schulz

Foto zu dem Text "Tour am Tiefpunkt"
Die Streckenkarte der 102. Tour de France | Foto: A.S.O.

23.10.2014  |  (rsn) – Langsam wird‘s lächerlich.

Dass die Tour-Organisatoren jedes Jahr mit Neuerungen aufwarten müssen, ist Teil ihres Jobs. Und die Strecke für 2015 birgt ja durchaus etliche nette Entdeckungen, allerdings auch einigen Risiken (dazu unten mehr).

Aber auf 3344 Kilometern gerade mal 14 Kilometer Zeitfahren unter dem Stichwirt "Innovation" zu verkaufen, ist eine kühne These – und fast eine Bankrotterklärung.

Finden sich keine attraktiven Strecken mehr? Wer hat eigentlich Bergzeitfahren verboten? Ist Ausgewogenheit bei einer Streckenführung gar kein Thema mehr? Sind denn bei Bergankünften nicht auch große Zeitabstände zwischen den Favoriten möglich, welche das Rennen vorentscheiden könnten?

Um das Argument, das immer für den Einbau von Kopfsteinpflaster-Passagen vorgebracht wird, einmal in neuem Zusammenhang zu verwenden: 'Ein Tour-Sieger muss alles können, mit jedem Terrain klarkommen' - also doch auch länger als eine Viertelstunde im Zeitfahren bestehen?!

Klassiker wird zum Stiefkind
Der Trend ist ja nicht neu: Der Kampf gegen die Uhr wird langsam zu einer Art Stiefkind bei der Tour. Doch die 102. Ausgabe ist da die Krönung: Man denkt, die Planer sind froh, sich der ungeliebten Disziplin gleich zum Auftakt in Utrecht entledigen zu können.

Dabei geht es ja nicht darum, wie noch vor Jahren üblich, in jeder Tour zwei lange Zeitfahren einzuplanen. Damit wurde den Kletterern fast jede Chance genommen und es ist gut, dass man dieses Ungleichgewicht behoben hat. Nun aber geht man ins andere Extrem.

Eine Tour mit so wenigen Zeitfahrkilometern gab es seit dem zweiten Weltkrieg nicht, und ein Punkt macht das Ungleichgewicht besonders deutlich: 2015 ist das ja auch kurze Mannschaftszeitfahren doppelt so lang wie der Solo-Ritt gegen die Uhr.

Angst vor „Zeitstrafen"
Sorry – Zeitfahren ist spannend und telegen, da muss es sich nicht verstecken, schon gar nicht hinter Flachetappen. Und eine Bergankunft, gerade das lehren die letzten Jahre, wird meist auch erst in der letzten Rennstunde spannend. Und falls Kletterkünstler nicht zu sehr im Nachteil sein sollen – warum dann eben nicht entweder ein echtes Bergzeitfahren oder zumindest einen Kurs wie bei der Tour 2013 in den Alpen?

So darf es jedenfalls nicht weitergehen: Erleben wir dann 2016 die erste Tour ganz ohne Zeitfahren? Im Bemühen, die Entscheidung ganz in die Berge zu verlagern und keinem Kletterer eine „Zeitstrafe" mitzugeben, nimmt sich die Tour eine große Chance: Nämlich einen guten Zeitfahrer mit Vorsprung in die Berge und das Rennen ums Podium zu schicken, den die leichtgewichtigen Rivalen dann erst einmal stellen müssten – ohne Tony Martin damit direkt einen Umstieg zum Rundfahrer nahelegen zu wollen…

Martin in Gelb, Kittel in Grün?
Für Martin ist immerhin das Auftakt-Zeitfahren die perfekte Startrampe ins Gelbe Trikot, das er seit Jahren vergebens jagt. Allerdings könnte der Omega-Profi das maillot jaune schnell wieder verlieren: Die spannende Premiere an der „Mauer von Huy" im Ziel der 3. Etappe wird eine hohe Hürde für ihn, zumal der Sieger dort auch noch eine Zeitgutschrift erhält.

Die Rückkehr der Bonifikationen in der ersten Tour-Hälfte ist ein sinnvolles Experiment, ebenso die neue Punktverteilung im Kampf um das Grüne Trikot – diese sollte die Chancen von Kittel, Cavendish & Co. im Duell mit Peter Sagan deutlich verbessern.

Sturzgarantie und Schikane
Mit der erneuten Fahrt über das Kopfsteinpflaster gehen die Organisatoren wieder hohes Risiko ein: Spektakel ist garantiert – aber eben auch ein Lotteriespiel. Die Tour könnte dort durchaus nach Stürzen wieder große Namen verlieren, Mitfavoriten entscheidende Zeit ohne eigenes Verschulden verlieren. Nur zur Erinnerung: Vincenzo Nibali holte auf dem Pavé mehr Zeit auf seine Konkurrenten heraus als bei jeder Bergankunft 2014. Für mich passt das nicht zum Bemühen, zu große Zeitabstände vor den Bergetappen zu vermeiden.

Höchst gefährlich und sturzträchtig dürfte aber auch schon die 2. Etappe werden: Wenn am Tag nach dem Auftaktzeitfahren das Feld entlang der Nordsee um den ersten Sprintsieg kämpft, wird die Hektik noch größer als sonst sein: Weil niemand auf der Windkante Zeit verlieren darf, wird es extrem eng und schnell werden – die Folgen liegen auf der Hand bzw. dem Asphalt. Zwei Etappen mit hohem Schlüsselbeinfaktor in den ersten vier Tagen sind mir zu viel.

Wobei ich nichts dagegen habe, das Peloton in den Wind zu schicken – auf der 6. Etappe mit 100 Kilometern entlang des Meeres wird es richtig stürmisch zugehen. Dann aber ist die Hektik nach einigen Teilstücken zuvor, bei denen erste Tagessiege vergeben und die Gesamtwertung Form angenommen hat, etwas geringer als beim ersten echten Renntag der Tour.

Unfair finde ich die späte Platzierung des Mannschaftszeitfahrens am neunten Tag: Da werden, aus genannten Gründen, schon etliche Teams wohl nicht mehr komplett und weitere Fahrer durch Verletzungen gehandicapt sein. Das ist eine unkontrollierbare Schikane und verzerrt so eine Disziplin unnötig, die sonst nicht ohne Grund an den ersten Tagen einer großen Rundfahrt auf dem Programm steht.

Auf 28 Kilometern mit welligem Finale und Ankunft an der Côte de Cadoual (1,7km/6,2%) werden die Abstände durchaus merklich sein, v.a. aber wieder manche Mitfavoriten, deren Teams in dieser Prüfung nicht zu den besten zählen, ohne eigene Schuld deutlich an Boden verlieren. Das steht für mich wieder in Diskrepanz zur andererseits verfolgten Politik, unter der die Einzelzeitfahren leiden müssen.

Highlights in Serie
Aber genug gemeckert: Denn in der zweiten Tour-Hälfte hat die ASO jede Menge Highlights gepackt: Neue Bergankünfte wie Pierre-Saint-Martin in den Pyrenäen, selten besuchte Anstiege wie Cauterets und Pra-Loup, optische Schmankerl wie die Gorges du Tran und die Serpentinen der Lacets de Montvernier.

Das Finale in Alpe d’Huez ist ein Kracher – auch wenn ich die Journalisten-Kollegen, Busfahrer und Mitglieder der Werbekarawane bedauere, die das zu einer nach drei langen Wochen besonders endlosen Autofahrt nach Paris zwingt. Wer wie ich 2011 erlebt hat, wie zeitraubend eine „Abreise" vom berühmten Berg selbst für Mitglieder des Tour-Trosses ist, der kann allen Beteiligten nur gute Nerven für diese 600 Kilometer wünschen…

Wer ist jetzt Favorit?
Die Strecke der Tour 2015 hat klare Sieger und Verlierer: Chris Froome hat nicht ohne Grund schon gesagt, dass er über einen Startverzicht nachdenkt (was nicht kommen wird, denn für Sky ist die Tour viel zu wichtig, um dort ohne Siegkandidaten anzutreten).

Sehr zufrieden können hingegen nicht nur Alberto Contador oder Vincenzo Nibali sein. Für mich kommt der Kurs besonders auch Nairo Quintana entgegen, der am Berg niemanden fürchten muss und diesmal nicht im Zeitfahren Minuten einbüßt. Zudem ist sein Team im Mannschaftszeitfahren stark und erfahren. Ähnlich ist die Ausgangslage bei Joaquin Rodriguez, dem zudem Ankünfte wie in Huy oder Mende bestens liegen – an beiden hat er schon gewonnen.

Schließlich hat die ASO natürlich auch die Chancen der Franzosen besonders im Auge: Thibaut Pinault und Romain Bardet, die beiden neuen Fan-Lieblinge, können mit dem Parcous der „grande boucle" sehr zufrieden sein, Jean-Christophe Péraud hätte wiederum gegen ein längeres Zeitfahren wohl kaum etwas eingewendet. Alle drei dürften aber im Mannschaftszeitfahren spürbare Rückstände kassieren – was vielleicht der ASO ganz gelegen kommt: So sind sie zu offensiver Fahrweise gezwungen.

Last but not least: Ein Gewinner der Streckenführung könnte auch Dominik Nerz sein. Als Kapitän des Bora-Rennstalls hat der Allgäuer mit diesem Kurs gute Chancen, den angestrebten Platz in den Top 15 zu erreichen – ihm hätte ein langes Zeitfahren wohl einige Minuten Rückstand zu etlichen Rivalen eingebrockt.

Nicht meckern, selber machen - wie eine Tour 2015 auch aussehen könnte, haben Felix Mattis und ich uns vor der Präsentation überlegt – viel Spaß beim Vergleich, s. Links unter dem Text!

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