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07.04.2012 | (rsn) - Fréderic Guesdon wird Paris-Roubaix wohl kaum ein zweites Mal gewinnen. Doch allein dass er am Start der 110. Austragung steht, ist ein Sieg.
Es ist keine drei Monate her, da stürzte er bei der Auftaktetappe der Tour Down Under in Adelaide so schwer wie nie zuvor in seinen 18 Jahren als Profi. Offener Hüftbruch, lautete die niederschmetternde Diagnose.
Doch wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, aus welchem Holz Guesdon geschnitzt ist - der 40-Jährige gab sich nicht auf und arbeitete verbissen auf ein Kurzzeit-Comeback hin.
Denn seinen Plan wollte er nicht aufgeben: Am Abend des 8. Aprils auf dem Velodrom von Roubaix sollte seine Laufbahn enden - nicht tausende Kilometer von der Heimat entfernt.
Lakonisch stellte er fest: "Paris-Roubaix ist ein verdammt gefährliches Rennen. Aber wo passiert mir mein übelster Sturz? Auf breiter, flacher, asphaltierter Straße in Australien."
Den Wettlauf gegen die Zeit hat Guesdon gewonnen - und dabei auch gleich noch einen Rekord aufgestellt. Zum 17. Mal wird er sich von Compiègne aus auf den Weg gen Norden machen - eine neue Bestmarke, die er sich mit George Hincapie (USA) teilt.
"Alle waren schneller als ich"
Der Unterschied: Der Franzose hat geschafft, was sich der langjährige Armstrong-Leutnant noch sehnlich wünscht - den Triumph bei der "Königin der Klassiker".
Am 13. April 1997 schlug die große Stunde des Bretonen. Am Ende der achtköpfigen Spitzengruppe bog er aufs Velodrom ein, krasser Außenseiter im Kreis von Assen wie Museeuw, Moncassin, Tchmil oder Sörensen.
Niemand setzte auf den damals 25-Jährigen vom neu gegründeten Rennstall der französischen Lotterie. "Alle in der Gruppe waren schneller als ich, also setze ich den Sprint sehr früh an" schilderte Guesdon den entscheidenden Moment. Und auch wenn er "überzeugt war, sie würden noch vorbeiziehen" - am Ende jubelte der Außenseiter mit Startnummer 63 schon, während die Favoriten mit verzerrten Gesichtern um Platz zwei sprinteten.
Ein Star war geboren in Frankreich, das große Titelfoto der "L'Equipe" am Montag gehörte ihm, auf vier weiteren Seiten wurde der Überraschungs-Coup ausgebreitet.
Doch Guesdon wollte kein Star sein. Der wortkarge Profi aus dem Dörfchen Saint-Méen-le-Grand, der Heimat des dreifachen Toursiegers Louison Bobet, war nicht heiß auf den Rummel. Offen gestand er: "Man braucht für einen solchen Sieg auch etwas Glück. Ich habe viel Glück gehabt. Ohne das Pech von Museeuw hätte ich nie gewonnen. Aber ich habe den Sieg auch nicht gestohlen."
Karriere auf der Kippe
Nicht nur im Rennen seines Lebens hatte Guesdon, trotz zweier Defekte, viel Glück gehabt. Es hätte nicht viel gefehlt und seine Profilaufbahn hätte 1995 nach nur wenigen Monaten geendet. In der dubiosen Mannschaft "Le Groupement" startete er ins Profi-Geschäft, doch das Team war nach wenigen Monaten pleite und der Nachwuchsfahrer stand auf der Straße. Hätte ihn nicht Luc Leblanc mit nach Italien zu Polti genommen, würde Frankreich inzwischen schon 19 Jahre auf einen Heimsieg in Roubaix warten.
So aber konnte Guesdon seinen zweiten Platz aus dem Amateur-Rennen von 1994 nur drei Jahre später mit dem Pflasterstein bei den Profis toppen. Und das, obwohl sein erster von 17 Starts in der Eliteklasse fast schon traumatisch verlaufen war.
"Bei meiner Premiere 1995 fuhr ich lange vor dem Besenwagen. Die alten Recken hatten mir prophezeit: Du kommst vielleicht zum Velodrom - doch wenn Du ankommst, ist es schon zu!", erinnerte er sich nun. Und so kam es (fast) auch: Guesdon durfte zwar die Radrennbahn umrunden - aber sein Rückstand auf Sieger Franco Ballerini war als 86. so groß, dass er aus dem Zeitlimit fiel.
Doch schon ein Jahr später gelang ihm mit Rang 14 der erste von bisher elf Plätzen unter den Top 20. "Es gab Jahre, in denen ich viel stärker als 1997 war, aber ein Defekt im falschen Moment kostet Dich dann alle Chancen", blickt er auf etliche Tiefschläge auf dem Kopfsteinpflaster zurück.
Glanzlichter in Ferne & Heimat
Heute sind die meisten seiner Nachfolger in der Siegerliste von Paris-Roubaix schon seit Jahren "Rentner". Guesdon versuchte derweil, den durch frühen Ruhm geweckten Erwartungen gerecht zu werden.
Das gelang nicht in dem Maße, wie es sich die Öffentlichkeit erhoffte - er hingegen ließ sich auch durch längere Durststrecken nicht beirren und wurde 2006 mit dem Sieg im zweiten großen französischen Klassikerbelohnt: Mit dem Triumph bei Paris-Tours gelang ihm ein Double, dass nur wenige Fahrer vor ihm je geschafft hatten.
Und Guesdon konnte, abseits des ganz großen Scheinwerferlichts noch einige weitere Erfolge einfahren - etwa zwei Etappen der Dauphiné, das bretonische Paris-Roubaix "Tro Bro Leo" oder die Tropicale Amissa Bongo in Gabun.
Seine engsten Wegbegleiter wussten im Vorfeld des "Abschiedsrennens" kaum, welche Anekdote aus über einem Jahrzehnt im Team FDJ sie erzählen sollten.
Manager Marc Madiot, selbst zweifacher Roubaix-Triumphator, hat nicht vergessen, dass der Transfer zu seiner Mannschaft fast gar nicht zu Stande gekommen wäre: "Er wollte nicht zu uns wechseln, denn er warf mir vor, ich hätte ihn 1994 nicht gegrüßt, als er Zweiter im Amateur-Rennen von Paris-Roubaix geworden war."
Sein Zimmerkollege in all den Jahren, Christophe Mengin, hat den 13. April 1997 noch genau vor sich: "Ich wurde damals 17. und als meine Gruppe ins Velodrom kam, hörte ich über die Lautsprecher, wie von einem "Bretonen aus Saint-Méen-le-Grand" gesprochen wurde. Ich dachte: Toll, er ist bester Franzose geworden, nicht schlecht! Als ich vom Rad stieg, habe ich erfahren, dass er gewonnen hatte und bin vor Freude explodiert."
Auf ganz anderem Terrain erwarb sich Guesdon den Respekt von Teamarzt Gérard Guillaume, der nach den Skandalen von 1998 den Neuanfang im Rennstall begleitete. "Er ist ein harter Knochen - ich erinnere mich daran, wie er sich bei der Tour durch die Berge gekämpft hat, über sich hinauswuchs, um die Karenzzeit zu schaffen." Und er war auch beeindruckt von Guesdons Auftreten in Afrika: "Er hat gleich begriffen, welche Bedeutung unser Start dort hatte. Er und Mengin haben viel mit den afrikanischen Fahrern gesprochen, haben ihnen geholfen, mit ihnen abends am Tisch gegessen und beschlossen, die Prämien mit ihnen zu teilen. Das ist meine schönste Erinnerung an ihn."
Glanzlichter & Tiefpunkte
"Als ich anfing, wollte ich zehn Jahre Profi sein. Jetzt sind es 18 Jahre geworden und das mit ein paar schönen Siegen", fasst Guesdon selbst seine Karriere zusammen.
Dazu gehören aber auch Tiefpunkte, denn die ersten Jahre von FDJ waren bewegt, um es mal vorsichtig auszudrücken. Doping gehörte zum Alltag, auch Guesdon war wohl ein Kind seiner Zeit und das änderte sich erst nach dem Festina-Prozess in Lille 1998. Dort wurde auch FDJ genau unter die Lupe genommen, nicht nur Madiot und Guesdon mehrfach verhört und vieles aufgedeckt, was lange energisch geleugnet worden war.
Denn zum ganzen Bild von Guesdon gehört auch, dass man auf dem Titelfoto der L'Equipe nach seinem Roubaix-Sieg neben ihm auch den Pfleger des Teams sieht - und der ist kein anderer als Jeff d'Hondt. Nicht erst seit den Memoiren des Belgiers ist bekannt, dass dieser nicht nur Massageöl im Gepäck hatte.
Der vielleicht größte Erfolg Guesdons könnte daher sein, dass er nach der radikalen Wende Madiots zum Dopinggegner dem Team treu blieb - bis zum letzten Tag seiner Laufbahn, die im weiteren Verlauf von weiteren Skandalen frei blieb.
Ein Leben neben der Tour
Und während die Fokussierung auf die Tour immer extremer wurde, gingen die Klassiker-Liebhaber Madiot und Guesdon unbeirrt ihren Weg. "Ich war kein guter Zeitfahrer, ich konnte nie wirklich gut klettern und schnell im Sprint war ich auch nicht - mit blieb keine große Wahl: Ich habe mich auf Rennen konzentriert, die mir lagen", bringt es Guesdon auf den Punkt.
Deshalb freut es ihn besonders, dass die Klassiker inzwischen wieder an Stellenwert in Frankreich gewonnen haben. "Früher war es für französische Fahrer eine Strafe, zur Flandern-Rundfahrt abkommandiert zu werden", weiß er noch zu genau - heute traut er einigen seiner motivierten jungen Landsleuten zu, dort bald für Furore zu sorgen.
Ehrendusche & Eiersuche
So geht er ohne Bedauern. "Mir den Endpunkt selbst wählen zu können und in Roubaix aufzuhören, macht mich stolz", bilanziert er nüchtern. Wenn er die letzte Tortur über die "pavés" überstanden haben wird, steht sein Kilometerzähler für die Kopfsteinpflaster-Passagen Nordfrankreichs bei rund 800 Kilometern.
Auf eine Ehrenrunde im Velodrom will sich Guesdon noch nicht festlegen: "Wenn ich im Besenwagen ankommen sollte, werde ich nicht aussteigen und mich nochmal aufs Rad setzen."
Den Dreck der Feldwege kann er dann in jenem Duschabteil abspülen, an dem sein Namensschild als Ehrenzeichen montiert ist. Dann wird er ein letztes Mal seine Sachen packen und im normalen Leben verschwinden.
"Wie es weitergeht? Wenn ich zurück bin, geht's erst einmal mit den Töchtern auf Ostereiersuche."
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