Kommentar zu Sprints und Reißzwecken bei der Tour

Die Sicherheitsdebatte endet nicht bei den Alpen-Abfahrten

Von Felix Mattis

Foto zu dem Text "Die Sicherheitsdebatte endet nicht bei den Alpen-Abfahrten"
Die Zielankunft der 3. Etappe der Tour de France in Bayonne sorgte für Diskussionen. | Foto: Cor Vos

04.07.2023  |  (rsn) – Die Sicherheit der Fahrer, dieses Thema ist seit dem tragischen Unfalltod von Gino Mäder im Radsport wieder in aller Munde. Und ja, es gibt gute Entwicklungen. Zum Beispiel, dass der neue CPA-Präsident Adam Hansen mit den Verantwortlichen der Tour de France in der vergangenen Woche konferierte, um die Abfahrten zu den Etappenzielen der 14. und 17. Etappe vom Col de Joux Plane nach Morzine sowie vom Col de la Loze nach Courchevel sicherer zu machen. Mehr Warnhinweise für die Fahrer und Auffangpolster an gefährlichen Kurven, die bereits bei der Alpinen Ski-WM im Februar in Courchevel im Einsatz waren, sind die Folge davon.

Doch wie die ersten drei Tage der 110. Frankreich-Rundfahrt wieder einmal eindrucksvoll gezeigt haben, gibt es auch jenseits von Hochgebirgspässen viel zu tun – vielleicht sogar noch mehr als auf den rasenden Abfahrten, wo die Radprofis immerhin meist einzeln hintereinander unterwegs sind. Positionskämpfe und plötzliche Richtungswechsel durch Schwarmverhalten gibt es dort kaum.

Im Massensprint jenseits der 60 km/h dagegen gibt es das sehr wohl. Und so musste man sich nach der Ankunft in Bayonne am Montagnachmittag schon fragen, was sich die Streckenplaner in puncto Sicherheit eigentlich dabei gedacht hatten, auf den letzten 200 Metern noch eine S-Kurve einzubauen.

"Regelkonform" heißt nicht immer "gut genug"

Klar: Die Straße war breit, die Banden sicher und auch wenn das am Montagabend einige behaupteten, gegen die UCI-Regularien hat die ASO mit der Ankunft nicht verstoßen. Dort steht nämlich: "Auf flachen Etappen sollten die letzten 500 Meter so weit wie möglich gerade sein, oder es sollte wenigstens keine gefährlichen Kurven geben." Von gefährlichen Kurven konnte in Bayonne aufgrund des recht großen Kurvenradius und der sehr breiten Straße keine Rede sein.

Dennoch war das, und da waren sich die Protagonisten überwiegend einig, für einen Massensprint auf so hohem Niveau wie bei der Tour de France nicht geeignet. Sprintende Radprofis fahren eben nicht auf Schienen eine Linie entlang. Selbst wenn sie sich, so gut sie können, an die eigene Sprintlinie halten, gibt es Abweichungen von einigen Zentimetern – und diese Zentimeter können ins Unglück führen, so wie es in Bayonne wohl passiert wäre, wenn Wout van Aert neben Jasper Philipsen nicht die Beine hochgenommen hätte.

"Wenn man eine Schikane einbaut, wollen die Fahrer den kürzesten Weg wählen", erklärte Fabio Jakobsen im Ziel und kritisierte die Streckenplaner der ASO: "Das war sicher nicht die schönste Ankunft der Tour. Baut einfach kein Links-Rechts in die letzten 500 Meter ein. Das ist nicht so schwer, oder… wenn ich das so sage, scheint es das wohl doch zu sein", so der Niederländer, der als Opfer des Horror-Sturzes im Massensprint von Katowice bei der Polen-Rundfahrt 2020 ein gebranntes Kind in Sachen gefährliche Sprintankünfte ist. "Wir hatten hier kilometerlang gerade Straßen, aber dann diese Windungen von links nach rechts am Ende. Wenn man sicherstellt, dass die letzten 400 Meter geradeaus führen, bekommt man auch nicht so ein Elend."

Sprintankünfte brauchen eine zweite Reihe Absperrgitter

Doch nicht nur die Straßenführung in Bayonne muss gesprochen werden, auch die Debatte über die Absperrungen am Straßenrand muss weiter diskutiert werden. Denn auch wenn die Banden bei der Tour de France recht hohen Standards entsprechen – keine auf die Straße ragenden Füße, glatte Oberfläche durch die Sponsorenschilder und eine gute Verankerung – so kommen auch hier die Zuschauer den Fahrern noch viel zu nah.

"Ich habe erst Jasper berührt, dann rechts die Zuschauer, und dann habe ich das Momentum verloren", schilderte van Aert das Ende seines Sprints in Bayonne und fügte hinzu, dass er glücklich sei, nicht gestürzt zu sein. Das galt einerseits natürlich der Berührung mit Philipsen und damit dem Thema Straßenführung, andererseits aber eben auch der Gefahr, die durch über die Bande lehnende Zuschauer und ausgestreckte Arme mit Smartphones entsteht. "Sie kamen uns sehr nah", meinte der Belgier.

Wenn man also über die Sicherheit der Radprofis diskutiert, dann kann bei Sprintankünften nicht mehr toleriert werden, dass Zuschauer mit einer falschen Armbewegung für einen Massensturz sorgen können. Auch wenn es in Bayonne gut ausging, Handys am Kopf sprintender Radprofis gab es in den vergangenen Monaten oft genug, zuletzt ganz prominent auf der 5. Etappe des Giro d'Italia in Salerno.

Keine Anzeige trotz krimineller Energie bei Reißzweckenwerfern

In den meisten Fällen ist das Unachtsamkeit von Zuschauern, wie auch bei jener Frau, die vor zwei Jahren mit ihrem Pappschild mit der Aufschrift “Allez Opi Omi“ Tony Martin zu Fall brachte und einen Massensturz auslöste. Doch man stelle sich einmal vor, bei einem Sprint drängt sich jemand in die erste Reihe an der Bande, der ähnliche kriminelle Energien hat wie diejenigen – sorry – Idioten, die in San Sebastian sowohl am Sonntag als auch am Montag Reißzwecken auf der Straße verteilten und so für zahlreiche Reifenschäden sorgten!

Und damit sind wir beim nächsten Punkt: Diese Menschen haben ganz bewusst schwere Verletzungen der Radprofis und auch der Fahrer und Mitfahrer von Begleitfahrzeugen wie Motorrädern in Kauf genommen, nicht durch Unachtsamkeit, sondern mit Absicht. Auch hier konnte man von Glück reden, dass am Sonntag in der Abfahrt vom Jaizkibel nicht plötzlich ein angepiekster Reifen platzte.

Während die junge Frau mit dem Opi-Omi-Schild vor zwei Jahren angezeigt wurde, eine regelrechte Hexenjagd entbrannte, bis sie sich stellte und schließlich eine Geldstrafe von 1.200 Euro zahlen musste, wurde radsport-news.com auf Nachfrage am Montag mitgeteilt, dass es durch die ASO bislang keine Anzeige gegen die Reißzweckenwerfer gebe, weil wohl keine Chance bestehe, sie zu identifizieren.

Nur durch eine Anzeige aber würden die spanischen Behörden in dieser Sache wohl überhaupt tätig werden. Wenn man also davon spricht, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die Gesundheit der Fahrer zu sichern, wäre eine “Anzeige gegen Unbekannt“ in San Sebastian wohl das Mindeste gewesen, was die Tour-Veranstalter oder auch die Fahrer-Vereinigung CPA – im “Opi-Omi-Fall“ damals immerhin Nebenklägerin - hätte tun können.

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