RSNplusTirreno-Adriatico im Schatten des Kriegs

Das Entsetzen ist groß, aber der Radsport-Alltag geht weiter

Von Tom Mustroph

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Gedenkminute vor dem Start der 2. Tirreno-Etappe. In der Mitte Mark Padun (EF Education - EasyPost), der einzige Ukrainer im Feld der italienischen Fernfahrt. | Foto: Cor Vos

12.03.2022  |  (rsn) - Die Jüngsten sind wieder einmal die Besten. Zum Etappenstart von Tirreno - Adriatico im kleinen Örtchen Murlo hat eine Schulklasse statt der üblichen Sponsorenklatschpappen selbst gemalte Transparente mitgebracht. Darauf wird der Wunsch nach Frieden geäußert und ein Ende des Kriegs in der Ukraine gefordert.

Diese Kinder haben den bislang deutlichsten Protest gegen den Krieg zur Fernfahrt zwischen den Meeren gebracht. Gut, die Organisatoren riefen zu Beginn der 2. Etappe zu einer Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer des Krieges auf. Auch wenn der Name des ukrainischen Radprofis Mark Padun (EF Education - EasyPost) aus den Lautsprechern schallte, brandete extra Applaus auf.

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Padun ist der einzige Ukrainer im Peloton. Er selbst hält sich zurück, reitet gerade nicht auf der Woge der Sympathie. “Ich will mein Rennen hier fahren, es gut fahren. Zur politischen Situation möchte ich mich nicht äußern. Bitte haben Sie dafür Verständnis“, sagte er zu radsport-news.com. Auf der 5. Tirreno-Etappe stieg der 25-jährige Padun aus.

Bora-hansgrohe-Neuzugang Aleksandr Vlasov ist Russe und hat sich klar gegen den Krieg positioniert: “Ich will nur Frieden.“ | Foto: Cor Vos

Sichtbarstes Zeichen dafür, dass im östlichen Teil Europas ein Krieg tobt, ist bei diesem Radrennen in Italien nur, dass es einen Teambus weniger an Start und Ziel gibt. Aufgrund der Sanktionen gegen Russland wurde der Rennstall Gazprom - RusVelo durch den Weltverband UCI vom Wettkampfbetrieb ausgeschlossen. “Wir befinden uns hier in einer Linie mit der Politik und auch mit dem internationalen Sport“, sagte Renndirektor Mauro Vegni zu radsport-news.com. “Es ist ein richtiges Signal. Aber man darf auf der anderen Seite auch nicht die Leute für den Krieg verantwortlich machen, die in der Mannschaft sind. Es ist vor allem ein politisches Problem“, versuchte Vegni, zugleich auch Chef des Giro d’Italia, zu differenzieren.

Gazprom suspendiert - Vegni fährt die harte Linie mit

Die harte Linie fährt er aber mit. Und ein kleines Signal hat der Italiener ebenfalls gesetzt. “Wir hatten viele Anfragen von Teams, die nachrücken wollten. Wir haben uns dann aber entschieden, den Platz freizulassen“, erzählte er. Die kleine Episode ist typisch für die Stimmung im Profiradsport. Einerseits ist das Entsetzen über den Krieg groß. “Das ist eine schlimme Situation. Mit einem Krieg in Europa hat im Jahre 2022 niemand gerechnet“, sagte Emanuel Buchmann (Bora - hansgrohe) zu radsport-news.com.

Andererseits ist die Neigung, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und alles andere auszublenden, sehr verbreitet in der Branche. “Wir leben hier in unserer eigenen Welt, sind mit den Planungen für das Rennen beschäftigt, wann wer auf die Rolle geht und aus welcher Richtung der Wind bläst“, meinte Rolf Aldag, Buchmanns Sportdirektor bei Bora - hansgrohe.

Yaroslav Popovych, Sportdirektor bei Trek - Segafredo, lebt in Italien und hat einen Einberufungsbescheid der ukrainischen Armee erhalten. | Foto: Cor Vos

Nicht, dass Aldag den Krieg vergisst. Im letzten Jahr betreute er Mark Padun noch als sportlicher Leiter bei Bahrain Victorious. Er hat Padun auch kontaktiert, unmittelbar nach den ersten russischen Angriffen auf die Ukraine, und ihm natürlich Mut zugesprochen. “Es ist etwas anderes, ob man jemanden persönlich kennt, der betroffen ist, oder man den Krieg nur aus den Nachrichten kennt“, fügte Aldag gegenüber radsport-news.com nachdenklich an. Seinen Job macht er trotzdem weiter, wie so viele, hier, und auch woanders.

Trek-Sportdirektor Popovych als Flüchtlingshelfer

Nicht mehr an seine Arbeit denken mochte hingegen der Ukrainer Yaroslav Popovych. Der frühere Radprofi ist ebenfalls sportlicher Leiter. Er sollte für den Rennstall Trek - Segafredo auch zum Tirreno. Dann aber bat er seine Chefs um eine Freistellung. “Ich habe den Kopf nicht frei genug, um weiterzuarbeiten“, sagte er. Stattdessen hilft er jetzt ukrainischen Sportlern, nach Italien auszureisen. Das erzählte Popovych in einem Videointerview mit einem italienischen Radsport-Influencer. Dort berichtete er auch, einen Einberufungsbrief der ukrainischen Armee erhalten zu haben. “Ich weiß nicht, was das jetzt für mich bedeutet, ich bin ja in Italien“, sagte er und wirkte ziemlich ratlos.

Bei der Videokonferenz war auch Renat Khamidulin zugeschaltet. Er ist Russe und General Manager von Gazprom - RusVelo. Khamidulin verurteilte den Krieg, nannte ihn “unvorstellbar in unseren Zeiten“. Und er erklärte auch, dass er der UCI vorgeschlagen habe, mit seinem Team in neutral weißer Kleidung, neutralen weißen Fahrzeugen, ja sogar der Aufschrift “Frieden“ darauf, an Rennen teilnehmen zu wollen. “Wir wollten, dass der Radsport ein positives Zeichen setzt“, erklärte er. Die UCI nahm den Vorschlag seiner Aussage nach aber nicht an. Auf eine Nachfrage von radsport-news.com reagierte die UCI nicht.

Mauro Vegni, Renndirektor des Giro und von Tirreno-Adriatico, trägt die sich gegen Russland richtenden Sanktionen mit. | Foto: Cor Vos

Der Fall ist delikat. Einerseits steckt viel Russland allein im Namen des Zweitdivisionärs. Auch die Lizenz ist russisch. “Hauptsponsor ist aber die deutsche Filiale von Gazprom. Das Management sitzt in der Schweiz, der Sitz des Teams ist Italien“, versicherte Khamidulin. Und zum Team gehören neben neun russischen Profis auch sieben Italiener, zwei Tschechen, ein Spanier, ein Norweger und ein Costa Ricaner.

Popovych hat Mitleid mit den Fahrern von Gazprom - RusVelo

Über das Schicksal der Fahrer und auch das der Betreuer äußerte Popovych Bedauern. “Sie haben einfach Pech in dieser Situation. Was können sie dafür, außer dass sie diesen Sponsor haben? Jetzt sehe ich viele Familien in Schwierigkeiten und für Renat ist es noch komplizierter, einen Sponsor für das nächste Jahr zu finden“, spielte Popovych auf die ökonomischen Folgen der Sanktionen für den Rennstall an. Das war eine ukrainisch-russische Kommunikation, die Hoffnung machte. Beide sprachen übrigens Italienisch miteinander.

Beim Tirreno selbst gibt es solche Begegnungen nicht. Russische Profis sind nicht am Start. Sie dürften zwar unter neutraler Flagge Rennen bestreiten, wenn sie bei einem nicht-russischen Arbeitgeber unter Vertrag sind. Das betrifft aber nur ganz wenige Personen. Einer ist Bora-Profi Alexander Vlasov. Er fährt bei der parallel stattfindenden Fernfahrt Paris – Nizza – und ging dort auf deutliche Distanz zum Krieg, den sein Staatschef vom Zaun gebrochen hat. “Ich will nur Frieden. Ich bin keine politische Person. Normale Menschen wie ich wurden gar nicht gefragt, ob sie den Krieg überhaupt wollen“, sagte er am Rande von Paris – Nizza.

Gazprom - RusVelo wird vom russischen Staatskonzern finanziert und ist in Folge von Putins Angriffskrieg von Rennen suspendiert worden. | Foto: Cor Vos

Der 25-jährige Vlasov tritt dort als neutraler Fahrer an. “Seine Nationalität wird nicht erwähnt, bei Siegen wird keine Nationalhymne gespielt. Er darf nur fahren aufgrund der arbeitsrechtlichen Bestimmungen“, erklärte Enrico Della Casa, Präsident des europäischen Radsportverbands UEC, gegenüber radsport-news.com. “Hat jemand einen nicht-russischen Arbeitgeber, hat er auch das Recht, seinen Vertrag zu erfüllen. Das kann man vergleichen mit einem russischen Techniker, der für die deutsche Telekom arbeitet“, führte Della Casa weiter aus. Er hält Sanktionen für den richtigen Schritt und sieht sogar noch Steigerungsmöglichkeiten. “In den folgenden Tagen wird es darum gehen, wie man mit Funktionären aus Russland und Belarus umgeht“, prognostizierte er.

Hilfsfonds der europäischen Verbände für ukrainische Radsportler

Parallel dazu geht es auch um konkrete Hilfe. Della Casa berichtete von einem Hilfsfonds der europäischen Verbände für ukrainische Radsportler: “Gemeinsam mit dem türkischen, dem polnischen und dem Schweizer Verband wollen wir ukrainischen Radsportlern mit Trainings- und Wettkampfmöglichkeiten helfen. Es handelt sich dabei um Sportler, die sich bereits in diesen Ländern aufhielten und dann durch den Krieg blockiert wurden.“

Das ist mal eine konstruktive Herangehensweise. Zu hoffen ist, dass sich noch mehr Verbände beteiligen – und dass sie mehr zu tun bekommen, wenn nämlich Popovychs Initiative, Sportlerinnen und Sportler aus dem Land zu evakuieren, von Erfolg gekrönt wird.

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