Auszug aus dem neuen Buch des Briten

Thomas am Tourmalet: Verschenktes Geld und fiese Spielchen

Von Geraint Thomas

Foto zu dem Text "Thomas am Tourmalet: Verschenktes Geld und fiese Spielchen"
Geraint Thomas am Col du Tourmalet, bei der Tour 2019 | Foto: Cor Vos

15.07.2021  |  (rsn) - Wird Geraint Thomas den 17-km-Anstieg zum Col de Tourmalet heute "wie ein richtiger Drecksack" fahren? Das hat der Tour-Sieger von 2018 in seinem kürzlich erschienenen Buch "Radsportberge und wie ich sie sah" (hier die rsn-Rezension dazu) angekündigt - "wenn ich eines Tages bei der Tour nicht mehr um den Gesamtsieg fahre", so Thomas. Lesen Sie hier das Kapitel über seine diversen Erfahrungen an diesem mythischen Pyrenäen-Pass...

Es gibt so viele Gründe, sich an den Tourmalet zu erinnern, so viele Möglichkeiten, wie man ihn betrachten kann. Er gehört auf eine Weise zu den ewigen Favoriten der Tour, wie es andere Hochgebirgspässe nie tun werden. Er ist anders als alles, was um ihn herum ist. Er ist lang und spektakulär und er führt sehr, sehr hoch hinauf. Er ist ein Berg, den man gesehen haben muss.
(...)

Der Tourmalet ist ein Anstieg, der nicht die Geltung
und die Verehrung erhält, die er verdient. Es wird viel über Alpe d’Huez und den Mont Ventoux geredet, aber in den Pyrenäen hat der Tourmalet die Hosen an. Du kannst kein Großer der Tour werden, wenn du ihn nicht gut fährst. Er zieht sich endlos hin. Er führt hinauf auf mehr als 2100 Meter, was bedeutet, dass du es auf dem Weg von unten nach oben mit der ganzen Klima-Palette zu tun bekommst: sengende Hitze in Talnähe, wo du dir literweise Wasser über die Birne kippst, 15 Grad kälter am Gipfel, wo Nebel und eisiger Wind herrschen.

Du neigst dazu, ihn nicht für voll zu nehmen. Zum Teil liegt das daran, dass nur in ganz seltenen Fällen eine Etappe hier oben zu Ende geht, und es ist etwas völlig anderes, einen Anstieg mitten in einer Etappe zu fahren oder als Bergankunft. Meist fährst du den Tourmalet auf dem Weg zu einem anderen Anstieg (...), und es wird bergauf wahrscheinlich ein strammes Tempo angeschlagen, aber auch kein allzu irres. (...)

In meinem ersten Jahr bei Sky (...) fuhren wir
den Tourmalet zunächst auf der 16. Etappe auf dem Weg von Bagnères-de-Luchon nach Pau, bevor es anschließend, nach einem Ruhetag, dort eine Bergankunft gab. Damals schleppte ich noch von der Bahn ein wenig zusätzliches Gewicht mit mir herum – du nennst es Gewicht, ich nenne es Power – und hatte dementsprechend bergauf so meine Schwierigkeiten.

Mein Fazit am Ende der beiden Tage? Den Tourmalet mitten in der Etappe fahren zu müssen, war schwerer. Entweder hängst du dich voll rein, um Anschluss ans Peloton zu halten, oder du bist eh abgehängt und versuchst verzweifelt, nicht noch mehr Zeit einzubüßen. Wenn es hingegen der Schlussanstieg ist, weißt du mehr oder weniger, wie viele Minuten du verlieren darfst, um innerhalb der Karenzzeit zu bleiben, so dass du es so locker angehst, wie nur irgend möglich.

Ich weiß noch, wie ich eine Stunde später
oder so im Fernsehen die Aufzeichnung der Zielankunft der Favoriten sah und wie baff ich war – Alberto Contador und Andy Schleck schenkten sich nichts da oben im Nebel. Du liebe Güte, ist das der gleiche Anstieg, den ich eben hochgefahren bin?

Aber das war eine seltene Ausnahme. In der Regel ist der Tourmalet ein "Durchgangs"-Berg und kann dir daher das Gefühl geben, weniger Einfluss auf den Kampf um das Gelbe Trikot zu haben als ein Anstieg, der stets den Schlussakt einer Etappe bildet.

Hinzu kommt, wie fehl am Platz er
in seiner natürlichen Umgebung wirkt: eine zweckmäßige Straße, die so lange es geht so gerade wie möglich verläuft, statt sich so wie die meisten Anstiege in den Pyrenäen mal hierhin, mal dorthin zu wenden. Im Allgemeinen sind die Passstraßen in der Region kürzer und steiler. Sie sind verschnörkelt, eigenwillig, mache,n was sie wollen. Nach dem Motto: "Ach, was soll’s, bauen wir halt ’ne Straße hier rüber."

Die Alpen sind die Vernünftigen. Breite Straßen, vorschriftsmäßige Serpentinen. Orte an der Passhöhe. Klare Linien und nüchterne Inszenierung. Der Tourmalet entspricht diesem Modell weit mehr als dem der Pyrenäen. Es ist, als würde man drei Brüder treffen, die alle klein und muskulös sind, und dann erfahren, dass der vierte, der jüngste, einen Kopf größer ist. Darf ich vorstellen: Steve. Er ist ein bisschen aus der Art geschlagen.

Am Tourmalet gibt es also nur wenig wildes
Gezappel der Straße. Es gibt auch kaum Bäume. Er macht dir keine Angst – wir hocken an diesem Tag nach der morgendlichen Besprechung nicht alle verängstigt im Team-Bus – aber der Umstand, dass du die Straße so weit hinauf- und hinuntersehen kannst, bringt seine ganz eigenen Probleme mit sich.

Wenn du an einem kurvenreichen Anstieg abgehängt wirst, weißt du, dass du abgehängt bist. Du findest dich damit ab und machst weiter, so gut es geht. Wenn du hingegen auf den langen Geraden am Tourmalet abgehängt wirst, siehst du deine Konkurrenten davonfahren. Du kannst dich der Realität nicht entziehen. Es ist, wie von einer langjährigen Partnerin verlassen zu werden und dann läufst du ihr ständig über den Weg, wenn du ausgehst. Für sie hat sich die Sache erledigt, aber für dich nicht, denn du wirst permanent an deine eigenen Unzulänglichkeiten erinnert.

Selbst die Ski-Station von La Mongie,
auf halber Strecke des Anstiegs von Osten her, hat mehr von der Funktionalität der Alpen als von der Unberechenbarkeit der Pyrenäen. Grauer Beton, große, brutalistische Wohnblocks. Ein Ort, der eher mit Blick auf Zweckdienlichkeit errichtet wurde statt auf Vergnügen. Und trotzdem ist es der Ort, auf den du dich am meisten freust, während du kletterst, denn hier gibt es Unterkünfte und daher stehen hier besonders viele Fans an der Straße.
(...)

Dann kommt die Abfahrt - und es ist eine verdammt schnelle Abfahrt. Eine lange, gerade Straße bedeutet, dass du so richtig Tempo aufnehmen kannst, sogar noch mehr im Windschatten eines Autos, wie manche es versuchen. Ich weiß noch, wie José Joaquin Rojas bei der Tour 2014 hinter dem Team-Wagen von Movistar hockend auf der Abfahrt vor dem Schlussanstieg hinauf nach Hautacam an mir vorbeiflog. Ich hatte mindestens 80 km/h drauf. Sie müssen mit 120 km/h unterwegs gewesen sein. Es war absolut beängstigend. Er wurde von der Jury erwischt und aus dem Rennen genommen, aber trotzdem.

Von der üblichen Seite aus,
von Sainte-Marie-de-Campan, sind es immerhin stramme 17,2 Kilometer, eine durchschnittliche Steigung von 7,4 %, eine Rampe von 13 % kurz vor der Passhöhe. (die heutige Route, d.Red.)
(...)

2011 hatte ich den anfänglichen Respekt abgelegt und fand mich unter den Ausreißern auf dem Weg zur Passhöhe wieder. Für das Team war die Rundfahrt bis dahin katastrophal verlaufen: Brad Wiggins war gestürzt und ausgestiegen, und wir brauchten dringend ein Erfolgserlebnis. Als mein letzter verbliebener Begleiter Jeremy Roy abreißen ließ, beschloss ich, vernünftig zu sein. Es ist nur noch ein Kilometer bis zur Passhöhe, warte lieber auf ihn, so dass wir bis zum Ziel zusammenarbeiten können und bessere Chancen haben, den Etappensieg unter uns auszumachen.

Ein grandioser Plan, bis zu dem Punkt,
als er (Jeremy; d.Red.) an der Passhöhe plötzlich an mir vorbeisprintete. Du Depp, dachte ich. Du liegst in der Bergwertung viel zu weit zurück, als dass die paar Punkte einen Unterschied machen würden. Schone deine Beine, Junge, wir werden sie noch brauchen auf den Kilometern, die vor uns liegen.

Erst im Interview nach der Etappe erfuhr ich, dass dem ersten Fahrer oben am Tourmalet ein Geldpreis von 5000 Euro winkte (das "Souvenir Jaques Goddet", benannt nach dem zweiten Sport-Direktor der Tour; d.Red.). An jenem Tag gab es also nur einen Deppen an diesem Anstieg und zwar denjenigen, der bereitwillig seine Geldbörse geöffnet und einem geschlagenen Mann gestattet hatte, sich zu bedienen.

Noch härter war es wohl 2019,
als es hier eine Bergankunft gab. Ich hatte Mühe, mit der Spitzengruppe mitzuhalten, und musste sie ziehen lassen. Es galt, vernünftig zu bleiben und mein eigenes Tempo zu fahren, statt zu versuchen, auf Teufel komm raus mit den anderen mitzugehen, nur um auf dem steilen letzten Kilometer endgültig zu platzen.

Schon der Einstieg in den Berg war brutal gewesen. Andrey Amador hatte sich für Movistar reingehängt, um Ineos die Party zu verderben, und ein höllisches Tempo vorgelegt. Er erhöhte immer wieder die Schlagzahl, fuhr eine Minute lang brutal schnell, nahm für zwei Minuten etwas heraus, dann gab er wieder Vollgas. Eine Fahrweise, die du hasst, wenn du in der Gruppe dahinter sitzt. Sie versaut einfach jedem den Tag. Körperlich kommst du damit vielleicht ebenso gut zurecht wie alle anderen, aber mental ist es eine besonders grausame Prüfung.

Wenn ein anderer so etwas mit dir macht,
ist das immer unendlich viel härter und schlimmer, als wenn du selbst es mit jemand anderem machst. Du weißt, dass es ihm egal ist, wann und wie er oben ankommt, so dass er machen kann, was er will. Aber dir ist es nicht egal, und deshalb sind derlei unberechenbare Spielchen das Letzte, was du gebrauchen kannst.

Seither keimte in meinem Kopf ein perfider Plan: Wenn ich eines Tages bei der Tour nicht mehr um den Gesamtsieg fahre, wenn ich ähnlich befreit aufspielen kann, werde ich den Tourmalet auch einmal wie ein richtiger Drecksack fahren. Nur um zu sehen, wie das ist.

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