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22.09.2021 | (rsn) – Es kommt in nördlicheren Gefilden nicht oft vor, dass sich die anwesenden Journalisten erheben und stehend Beifall klatschen, wenn ein Radprofi eine Pressekonferenz verlässt. Am Mittwochabend in Brügge aber war wieder so ein Moment. Und diesmal kam es wenig überraschend. Denn die Radsport-Szene verabschiedete sich in diesem Moment von einem seiner größten Protagonisten der vergangenen 15 Jahre: Tony Martin. Der 36-Jährige zog nach dem letzten Rennen seiner Karriere von dannen - und das im Regenbogentrikot, dem Jersey, das er in vier der letzten zehn Jahre immer dann trug, wenn er ein Einzelzeitfahren bestritt.
"Das ist die schönste Art, die man sich vorstellen kann, um seine Karriere zu beenden", hatte Martin zuvor über seinen insgesamt achten WM-Titel als Profi gesagt. Viermal wurde er Weltmeister im Einzelzeitfahren, dreimal im Mannschaftszeitfahren und nun zum Abschluss auch in der neuen Mixed Staffel.
"Man fragt sich ja immer selbst, wie man seine Karriere beenden will und ich bin sehr, sehr dankbar, dass mir mein Team das hier ermöglicht hat - mich erstmal hierauf zu 100 Prozent vorzubereiten und dann auch zu sagen, dass das wirklich mein letztes Rennen wird. Jetzt ganz oben auf dem Podium 'adé' zu sagen und den Fans die Möglichkeit zu geben, mir auch nochmal 'adé' zu sagen, macht mich schon sehr stolz", gab Martin gegenüber radsport-news.com zu.
Dass es soweit kam, dafür sorgte der Wahlschweizer diesmal aber nicht allein. Und das betonte er auch immer wieder. Denn so sehr von vorneherein klar war, dass sich im Rahmen dieser Mixed Staffel in der öffentlichen Wahrnehmung alles um Martin und seinen Abschied drehen würde, so sehr betonte er, dass es an diesem Tag trotzdem auch für ihn in erster Linie um diesen WM-Titel in der Mixed Staffel ging, den er und seine fünf Teamkolleg:innen so stark herausgefahren hatten.
"Einfach nur happy über Gold"
"Jetzt gerade bin ich einfach nur happy über die Gold-Medaille – über die Art, wie wir heute gekämpft haben und wie die Frauen gekämpft haben, die, glaube ich, wieder den Unterschied gemacht haben", sagte Martin nach dem Sieg mit 13 Sekunden Vorsprung auf die Titelverteidiger aus der Niederlande. "Heute denke ich nicht über das Ende meiner Karriere nach. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um traurig oder wehmütig zu sein. Heute bin ich einfach nur froh über Gold", meinte er, gab dann aber auch zu: "Die großen Emotionen vom Karriereende werden in den nächsten Tagen kommen."
Doch natürlich spielten die Abschieds-Emotionen auch am Mittwoch schon eine große Rolle. Darum kam Martin nicht herum – schließlich wurde er immer wieder in den Mittelpunkt gerückt. Er bekam ein Regenbogentrikot mit Danksagung auf dem Rücken, er wurde vor allen anderen Fahrern und Fahrerinnen allein auf die oberste Stufe des Podiums geschickt, um sich feiern zu lassen, er wurde dem belgischen König vorgestellt, er bekam Standing Ovations nach der Pressekonferenz und zahlreiche seiner Kollegen und Kolleginnen herzten ihn und wünschten ihm alles Gute.
"Fast noch mehr wert als eine Gold-Medaille"
"Es war eine ganz besondere, einzigartige Atmosphäre: Wir waren 20-30 Sportler zusammen in diesem Zelt und haben verfolgt, wie das Rennen ausgeht. Nach dem Zieleinlauf unserer Frauen kam jedes Team zu mir, hat mir gratuliert - und zwar speziell auch zu meiner ganzen Karriere - und hat mir nur das Beste für meine Zukunft gewünscht", schilderte er überwältigt. "Das ist schon eine ganz, ganz große Ehre für mich und zeigt mir auch, dass ich als Mensch im Fahrerfeld gut angenommen wurde. Und das ist für mich fast noch mehr wert als eine Gold-Medaille."
Wie beliebt und angesehen Martin in der Welt des Radsports ist, das wird immer dann besonders deutlich, wenn man sieht, wie er gerade im Ausland und vor allem in den großen Radsport-Nationen betrachtet wird. Seine großen Fähigkeiten und der 'große Motor', der ihn in seiner Karriere zu vielen Erfolgen vor allem im Zeitfahren oder durch Solo-Vorstöße führte – unvergessen seine Tour de France-Etappensiege in Mulhouse 2014 und Cambrai 2015 – sorgen gerade in den wahren Radsportländern für Ehrfurcht vor dem Deutschen. Überall dort, wo Radsport nicht nur Tour de France und Gelbes Trikot heißt und wo man ihn nie ins enge Korsett eines Rundfahrers stecken wollte, wie man es in Deutschland zeitweise versuchte.
International noch mehr verehrt, als daheim
Denn Martin war immer mehr als seine Siege. Das wird auch daran deutlich, dass international gerade seine fulminante Flucht auf der 6. Etappe der Vuelta a Espana 2013 nach Caceres nie in Vergessenheit geraten ist. Denn auch wenn er dort von den Sprintern auf den letzten 25 Metern noch abgefangen wurde, so lehrte der Zeitfahrkönig der Jahre 2011, 2012 und 2013 sowie 2016 die Konkurrenz damals eindrucksvoll das Fürchten vor seinen Solos. Es war eine der beeindruckendsten Vorstellungen seiner Laufbahn und quasi der Vorbote für Mulhouse 2014 oder Cambrai 2015. Aber auch seine Akribie in der Arbeit mit seinem Zeitfahrmaterial oder die unzähligen Kilometer als Lokomotive an der Spitze des Pelotons gerade in den späteren Karrierejahren sind durch reine Ergebnisse nicht quantifizierbar, machten ihn als Sportler aber immer aus und ließen sein Ansehen in der Szene wachsen.
Nun hängt der zweifache Vater sein Rad an den Nagel, und damit wohl auch bald einige Trikots. "Wer mich kennt, weiß, dass ich kein Fan davon bin, diese Dinge irgendwo zu platzieren. In meinem privaten Umfeld ist relativ wenig Radsport zu finden. Aber klar, jetzt wo ich kein Profi mehr bin, kann ich mir auch Gedanken machen, ob ich das eine oder andere Trikot noch aufhängen werde", sagte er am Mittwoch.
"Emotional einer der größten Siege"
Irgendwo muss ein Regenbogentrikot einen Platz finden, möchte man ihm als Radsport-Romantiker ohne Herz für geschmackvollere Wohnungseinrichtungen zurufen. Und was wäre passender, als das letzte Trikot, das er in seiner Karriere überstreifen durfte? Der Sieg in Brügge jedenfalls habe einen sehr hohen Stellenwert, gab er zu.
"Ich würde den Stellenwert sportlich und emotional etwas differenzieren. Emotional ist das heute sicher einer der größten Siege", so Martin. Der allergrößte Erfolg in 15 Jahren Profi-Karriere liegt aber bereits zehn Jahre zurück. Zehn Jahre und einen Tag, um genau zu sein. "Mein persönliches Highlight ist mein erster WM-Titel in Kopenhagen vor genau zehn Jahren. Das war mein Durchbruch im Zeitfahren und der Beginn einer wirklich schönen Zeit. Dieser Moment, als ich dort gewonnen habe, wird immer der beste Moment in meinem Radsportleben sein", schwärmte er nun in Brügge.
Kopenhagen vor zehn Jahren und einem Tag steht über allem
Damals, vor zehn Jahren und einem Tag in Kopenhagen, waren zwei seiner heutigen Teamkolleginnen aus Brügge auch schon abends im Teamhotel mit dabei: Lisa Brennauer und Mieke Kröger. "Da ist er zum ersten Mal Weltmeister geworden und ich weiß noch, wie wir alle beim Essen saßen und er dann im Weltmeistertrikot reinkam und wir alle applaudiert haben", erinnerte sich Kröger, die vor zehn Jahren in Kopenhagen noch Juniorin war. "Seitdem verfolgt man seine Karriere natürlich, und es ist schön, sein letztes Rennen mit ihm gemeinsam bestritten zu haben."
Wie besonders das für seine fünf Teamkollegen und Teamkolleginnen an diesem Mittwoch war, das hatten sie alle schon vor dem Rennen erklärt und wurde auch nach dem Rennen in vielen Szenen immer wieder deutlich. Von einem "Wahnsinnsgefühl" sprach Nikias Arndt, Max Walscheid bezeichnete Martin schon vorher als "großes Vorbild" und auch Lisa Klein war die Bewunderung im ersten Sieger-Interview, das sie gemeinsam in der Live-Übertragung gaben, anzusehen. Mit Martin verlässt einer der Größten des deutschen Radsports an diesem 22. September 2021 das Boot.
"Dass heute so viele, auch von anderen Teams, zu mir kamen und sagten, dass ich fehlen werde, das ist eine große, große Ehre", gab Martin zu. "Und auch ich werde das alles vermissen, denke ich. Aber jetzt mache ich einen Schritt in eine andere Welt. Ich werde zum ersten Mal seit 20 Jahren davon befreit sein, 24 Stunden am Tag Profi zu sein und bin sehr gespannt, wie sich das anfühlt!"
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