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21.09.2020 | (rsn) - Als die 107. Tour de France am 29. August 2020 startete, konnte in Zeiten der Corona-Pandemie niemand davon ausgehen, dass sie drei Wochen später am 20. September auch die Champs Élysées in Paris erreichen würde. Sie hat es wirklich geschafft und dabei erinnert sich Herbert Watterott an die Premieren- Ankunft auf dem Prachtboulevard, wo das bedeutendste Radrennen der Welt erst seit 1975 endet. Die deutsche Reporterlegende kommentierte damals live für die ARD.
Endlich kommt die Tour 1975 im Herzen von Paris an. Für mich als Fernseh-Berichterstatter war es zwar schon die elfte Teilnahme, aber doch auch eine Premiere, so wie für alle anderen Begleiter der Tour.
Im Jahr 1975 hatten sich die Organisatoren mit dem Renndirektor Jacques Goddet an der Spitze eine neue Attraktion ausgedacht. Das Ziel der letzten Etappe – und damit auch die Siegerehrung der Tour de France – sollte erstmals auf den Champs Élysées liegen, auf dieser großen und berühmten Prachtstraße von Paris.
Bei der ersten Frankreich-Rundfahrt 1903 hatte der Erfinder und Gründer der Tour de France, Henri Desgrange, das Ziel in den Pariser Vorort Ville d‘Avray, unmittelbar vor das "Restaurant du Père Aut"“ gelegt, wo am 19. Juli 1903 von sechzig Startern gerade einmal 21 wackere Ritter der Landstraße ankamen.
Von 1904 bis 1967 endete die Schlussetappe stets im Parc des Princes, im Prinzenparkstadion. Aber das altehrwürdige Velodrom war morsch geworden, war viel zu klein und musste abgerissen werden. Also begaben sich die Veranstalter auf die Suche nach einer neuen Zielankunft. Auf der Piste Municipale de Vincennes, auch kurz "La Cipale" genannt, im Südosten der Stadt gelegen, gab es auch eine Radrennbahn mit einer breiten, mausgrauen Zementpiste. Hier erreichten die Tour-Helden von 1968 bis 1974 insgesamt siebenmal den letzten Zielstrich einer Tour de France. In dieser Zeit endete die Tour viermal mit einem Einzelzeitfahren (Sieger Jan Janssen und dreimal Eddy Merckx). Dreimal gab es eine Sprintankunft mit Willy Teirlinck, Bernard Thevenet und Eddy Merckx als Sieger.
Ich kann mich noch gut an die besondere Atmosphäre auf der Zementpiste erinnern. Die uralten Tribünen waren immer bis auf den letzten Stuhl besetzt, und wie bei einem Marathonlauf, wo die Läufer schließlich durch das Tor die Aschenbahn oder Tartanpiste im Stadion erreichten, kamen die Rennfahrer aus dem "schwarzen Loch" der Zufahrt heraus auf die Radrennbahn "geschossen". Damals waren das tolle, begeisternde Kämpfe um den letzten Tagessieg einer Tour. Die Zuschauer waren meist in dunkle Anzüge gekleidet, trugen Krawatte oder Fliege, und die Frauen sorgten nicht selten mit den neuesten Kreationen der Pariser Modeschöpfer für Aufsehen.
Der Traum vom Ziel auf den Champs Élysées
Wie oft hatte ich mit Radiokollege Günther Isenbügel während unsere vielen gemeinsamen Reisen darüber diskutiert und von den Champs Élysées geträumt, aber bisher war diese Vision reine Träumerei gewesen. "Ich kann mir gut vorstellen, wie das gesamte Feld zum Massenspurt ansetzt, dem Ziel entgegenfliegt und ich als Reporter am Mikrofon diese nervenaufreibende Phase schildern kann", freute ich mich auf die vielleicht einmal eintretende Herausforderung.
Die Idee war schon an anderer Stelle in Arbeit. Lange vor der 62. Austragung der Tour de France im Jahre 1975, die im belgischen Charleroi startete und in Paris natürlich enden sollte, hatte ein französischer Fernseh- und Rundfunk-Moderator und Journalist eine zündende Idee. Vierzehn Jahre lang war Yves Mourousi zwischen 1975 und 1988 der Mittagssprecher von TF 1 Actualité (TV – 1.Kanal) und zu dieser Zeit einer der beliebtesten Fernseh-Moderatoren.
Ein Mann, der beste Beziehungen zu wichtigen Personen bis in die höchsten Ebenen der Politik besaß. Seine Idee war, ab 1975 die Tour de France auf dem Pracht-Boulevard Champs Élysées enden zu lassen. Er besprach seinen Einfall mit dem langjährigen Tour-Direktor Jacques Goddet und dessen Co-Direktor und Journalist Félix Levitan. Die beiden waren spontan begeistert von dieser Idee und ließen Yves Mourousi ab sofort gewähren. Er hatte den beiden Tour-Machern versprochen, den französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing, übrigens geboren in Koblenz, höchstpersönlich zu kontaktieren und seine Idee mit dem Staatsoberhaupt zu besprechen.
Staatspräsident Giscard d’Estaing stimmt zu
Und welch eine Sensation. Valéry Giscard d’Estaing, auch ein Freund des Radsports, war begeistert, und segnete nach kurzer Bedenkzeit und Rücksprache mit den entsprechenden Gremien den genialen Vorschlag des Journalisten Yves Mourousi ab.
Seit dieser Zeit endet die Schlussetappe einer jeden Tour de France im Herzen von Paris und immer an einem Sonntag. Die Prachtstraße wird seit 1975 also an zwei Tagen im Jahr abgeriegelt: am 14. Juli (dem französischen Nationalfeiertag) für die große Militärparade und am letzten Sonntag im Juli für die Ankunft des bedeutendsten Radrennens der Welt, der Tour de France.
Bisher nur einmal gab es einen dritten Termin, an dem die Champs Élysées gesperrt war für den normalen Verkehr. Und zwar war das der 12. Juli 1998, als Frankreich das Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft gegen Brasilien mit 3:0 gewann, durch Tore von zweimal Zinédine Zidane (heute Trainer von Real Madrid) und Emmanuel Petit, im Stade de France in Paris – St. Denis. Unzählige Menschenmassen bevölkerten damals den siebzig Meter breiten Pracht-Boulevard und feierten den neuen Fußball-Weltmeister.
Die erste Sprintankunft in der Tour-Geschichte mitten in Paris
Erstmals saß ich nun 1975 wie die anderen Fernseh-Reporter auf den Champs-Élysées. Die zugige Stahlrohrtribüne wurde wie an jedem Etappenziel vorher installiert, und als Sitzgelegenheiten dienten, wie schon seit Jahren, die wackligen, grün gestrichenen Biergartenklappstühle. Da hockten wir nun, die Radiokollegen im Obergeschoss und wir Fernsehkommentatoren zu ebener Erde.
Eine unbeschreibliche Stimmung schlug mir entgegen als ich auf die Tribüne kletterte. Rund 500.000 begeisterte Zuschauer aus Paris und aller Welt warteten auf den Franzosen Bernard Thevenet im Gelben Trikot. Acht Jahre nach Roger Pingeon war endlich wieder ein französischer Tour-Sieg zum Greifen nahe. Am Ende bezwang Thevenet den etwas in die Jahre gekommenen Eddy Merckx mit fast drei Minuten Vorsprung, nach 3.999 Kilometern.
Premieren-Spurt auf den Champs-Élysées – auch für die Reporter
Es gab nicht viel zu berichten über diesen 163 Kilometer langen Schlussabschnitt. Alle Ausreißer blieben meist in Sichtweite des wachsamen Feldes, in dem alle Sprintstars und Siegesanwärter dabei waren. Jeder "Störenfried"“ dieses harmonischen Rennverlaufs wurde unverzüglich wieder eingefangen.
Die schnellsten und aussichtsreichsten Sprinter im Feld hatte ich mit Siegen und anderen Details auf einem Extrablatt notiert. Gerben Karstens aus den Niederlanden sowie Rik van Linden und Walter Godefroot, beide aus Belgien, gehörten zum engen Favoritenkreis. Das Feld erreichte tatsächlich in geschlossener Formation die lange Zielgerade. Es wurde also immer wahrscheinlicher, dass eine schnelle Auffassungsgabe und ein gutes Auge gefragt waren, wollte ich beim Massenspurt den richtigen Sieger erkennen.
Wie von Geisterhand dirigiert, schob sich das Feld am Place de la Concorde zusammen, und es kam zum Sprint Royal, wie die Franzosen sagen, zum "königlichen Sprint". "Peloton groupé, tutti in gruppo, geschlossenes Feld", riefen die Reporter 500 Meter vor dem Ziel in ihre Mikrofone. Ganz dichtbeisammen, Lenker an Lenker, rasten die Profis auf den Champs-Élysées. In Windeseile kam die die bunte Fahrerschlange immer näher, und die Helfer versuchten ihre Sprinter in den günstigen Windschatten zu nehmen. Der Belgier Rik van Linden, gut zu erkennen an seinem Grünen Trikot des bisher Sprintbesten, stürmte als Erster auf die Zielgerade, er hatte schon drei Etappen bei dieser Tour gewonnen.
Godefroot stampfte an allen vorbei
Van Linden war aber zu früh im Wind, und wie eine Lokomotive stampfte nun Godefroot auf dem historischen Pflaster an allen vorbei. Walter Godefroot gewann die erste Ankunft inmitten von Paris vor Robert Mintkiewicz und Gerben Karstens.
Für Godefroot war es ein toller Abschluss seiner Tourkarriere. Siebenmal war er am Start gewesen, dies war der zehnte und letzte Etappensieg für ihn. Außerdem war er Belgischer Straßenmeister, gewann Bordeaux - Paris über 568 Kilometer, die Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Rund um den Henninger Turm in Frankfurt.
Aus dem fernen Tikio brachte er 1964 von den Olympischen Spielen eine Bronzemedaille im Straßenrennen mit. Rund 130 Siege in der Jugend und als Amateur sowie 150 Erfolge als Profi errang der gebürtige Genter. Eine wahrhaft stattliche Bilanz. Beobachtet hatte ich den Belgier mit der Boxernase bei unzähligen Rennen seit 1965, als ich mit dem Radsport auf Reisen ging und er ins Profilager gewechselt war. Ich hatte seitdem seine Siege und Niederlagen erlebt und kommentiert.
Sein höfliches, freundliches und seriöses Auftreten änderte sich auch nicht, als er dann bei verschiedenen Rennställen als Sportlicher Leiter fungierte. Der ruhige Mann aus Drongen bei Gent gewann als Chef des deutschen Team Telekom-Rennstall 1996 die Tour de France mit Bjarne Riis und ein Jahr später mit Jan Ullrich (beide gaben später Doping zu, d. Red.).
Wir doch die Zeit vergeht...Seit nunmehr 45 Jahren gibt es also schon die Ankunft der letzten Etappe der Tour de France auf den Champs-Élysées im Herzen von Paris. Berühmte Namen, die Radsportgeschichte geschrieben haben, triumphierten auf dem letzten Teilstück der Frankreich-Rundfahrt. Knetemann, Hinault, Maertens, Lemond, Museeuw, Abdushaparov, McEwen, Boonen, Winokurow, Kristoff und Ewan.
Rekordsieger ist Marc Cavendish, der viermal nacheinander gewann, aus deutscher Sicht waren Olaf Ludwig 1992, Marcel Kittel 2013 und 2014 und André Greipel 2015 und 2016 erfolgreich.
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