Tour of Mesopotamia-Tagebuch von Robert Müller

Es muss eine furchtbare Situation gewesen sein

Von Robert Müller

Foto zu dem Text "Es muss eine furchtbare Situation gewesen sein"
Robert Müller (mitte) und seine Teamkollegen bei der Tour of Mesopotamia | Foto: Müller

02.05.2019  |  (rsn) - Hallo aus Mardin, Südostanatolien, Türkei! Unser sportlicher Leiter Paul hat es heute tatsächlich geschafft, eine Dreiviertelstunde vor dem Start am Hotel einzutreffen. Er kam direkt vom gestrigen Rennen in Frankfurt und ist über Nacht hierher geflogen und dann vom Flughafen zum Hotel gerast.

Die Etappe sollte über 178 Kilometer mit nur einer Bergwertung schon nach 14 Kilometern über 400 Höhenmeter führen und mit einer Bergankunft enden. In der Startaufstellung mussten wir noch zehn Minuten warten, weil der Rennarzt noch nicht da war.. Da es keine offizielle Neutralisation gab, fuhr Lucas Carstensen an der Spitze des Feldes regulare und es gab tatsächlich auf den ersten Kilometern noch keine Attacken, bis es in eine Abfahrt hinein ging.

Am Ende der Abfahrt nahmen wir den etwa sechs Kilometer langen Anstieg zur Bergwertung in Angriff und es setzte sich recht schnell eine 20 Fahrer große Gruppe ab, mit dabei mein Teamkollege Leon. Ich hatte wegen der Bergankunft am Ende, und weil es außer dieser Bergwertung während der langen Etappe nichts zu holen gab, keine großen Ambitionen, in die Spitzengruppe zu gehen. Außerdem rechnete ich damit, dass sowieso wieder alles zusammenlaufen  und das Rennen um den Sieg dann am Schlussanstieg ausgetragen werden würde. Oben an der Bergwertung war meine etwa ebenfalls 20 Fahrer große Gruppe schon knapp eine Minute zurück, was nicht so schlimm war, aber ich merkte gleich, dass eigentlich keiner scharf darauf war, richtig zu fahren.

Vorne hatten sie offensichtlich Bock und zogen durch, während hinten kaum noch etwas ging. Die Gruppe wuchs auf vielleicht 35 Fahrer an und wir bildeten nun das Hauptfeld, da nur knapp 75 Fahrer gestartet waren. Nach 20 Kilometern war das Rennen also für uns alle bereits gelaufen, aber es lagen noch fast 160 Kilometer vor uns und mir war klar, dass es ein langer zermürbender Tag werden würde. Es ging in Wellen auf etwa 1000 Metern Höhe dahin und unser Rückstand wuchs rasch auf dreieinhalb Minuten an. Der Asphalt war sehr grobkörnig und bei Gegenwind rollte es überhaupt nicht.

Noch dazu fuhr nur etwa die Hälfte des Feldes mit durch die Führung und es gab immer wieder Lücken, Tempoverschärfungen und sogar Ausreißversuche. Es könnte in solch einer abgehängten Gruppe so einfach sein, wenn jeder kurz mit durch die Führung gehen würde und gleichmäßig gefahren werden würde, aber das klappt nie. Wir kamen durch eine Stadt, die nur aus hässlichen Plattenbauten bestand und danach wurde es sehr einsam um uns herum, da wir durch sehr dünn besiedeltes Gebiet fuhren. Insgesamt waren während des Rennens etwa die Hälfte der wenigen Zuschauer am Straßenrand schwer bewaffnete Soldaten, die die Strecke sicherten.

Irgendwann fuhren wir von dem Hochplateau bergab in ein enges, wildes Tal hinein, und ich stellte mir vor, dass in den Höhlen der Felswände von der Welt vergessene Eremiten leben würden. Nach 100 Kilometern lag unser Rückstand bei etwa sieben Minuten, wir mussten uns also nicht um die Karenzzeit sorgen, die bei 15 Prozent lag, und konnten weiter so fahren wir bisher. Als wir die syrische Grenze erreichten, bogen wir auf eine Schnellstraße mit gutem Asphalt ein und hatten dazu noch Rückenwind und somit stieg das Tempo auf 50-60 km/h an. Wir fuhren nun für einige Zeit mit nur etwa zehn Metern Abstand am ersten von in mehreren Reihen hintereinander angeordneten Grenzzäunen aus Stacheldraht und Betonplatten entlang.

Auf einmal hörte ich hinter mir meinen Teamkollegen Yannick schreien und als ich mich umsah, lag er auch schon zusammen mit meinem Teamkollegen Christoph auf der Straße. Verdammt, sie waren bei diesem hohen Tempo von etwa 55 km/h zu Boden gegangen.

Etwas später bogen wir von der Schnellstraße nach rechts in eine kleine Straße ab und kamen durch ein kleines Dorf, in dem etwas Unruhe und Tumult herrschte und als wir das Dorf verließen, hörte ich hinter mir ein komisches, lautes und blechernes Geräusch. Lucas fragte mich noch, ob da eben ein Schuss gefallen sei, aber ich verneinte. Langsam wunderte ich mich, warum meine gestürzten Teamkollegen nicht mehr zurück ins Feld kamen, und als uns zwei Krankenwagen mit Blaulicht entgegenkamen, ahnte ich nichts Gutes.

Die letzten 25 Kilometer führten auf sehr schlechter Straße auf Mardin zu, und weil unser Begleitfahrzeug nicht da war, lief ich langsam trocken. Es war sehr zäh und ich war froh, das Bike Aid das Tempo am Schlussanstieg kontrollierte und niemand mehr attackierte. Mir klebte unter der sengenden Sonne die Zunge am Gaumen und ich sehnte mich nach Wasser. Als wir endlich im Ziel waren, fuhr ich ohne anzuhalten direkt weiter und die drei Kilometer ins Appartement, denn dort gab es Wasser und ich hatte den Schlüssel das ganze Rennen bei mir gehabt - wie clever ich doch bin.

Im Zimmer angekommen, stürzte ich erstmal einen Liter Wasser hinunter, zog mich aus und wollte gerade unter die Dusche gehen, als Yannick, Christoph und unser sportlicher Leiter Paul ankamen und eine schier unglaubliche Geschichte erzählten.

Nachdem sie sich nach dem blöden Sturz wieder gesammelt hatten, machten sie sich im Windschatten des Teamautos auf die Verfolgung meiner Gruppe. Kurz vor der kleinen Ortschaft, die an der kleinen Straße lag, auf die wir von der Grenzstraße nach rechts eingebogen waren, wurden sie plötzlich von zwei verdunkelten Kleinbussen sehr schnell überholt. Sie hatten nun fast das Ende der kurzen Kolonne erreicht und waren dicht hinter dem Feld, als sich die Ereignisse überschlugen.

Als sie in den Ort fuhren, hörten sie plötzlich sehr nah Schüsse fallen und wurden im Ort an einer Kreuzung von Militär aufgeregt angeschrien, schnell zurück zu fahren. Paul setzte das Auto zurück, und als sie eine etwa einen Meter hohe Steinmauer sahen, ließ er den laufenden Wagen auf der Straße stehen, die Fahrer schmissen ihre Räder weg und sie hechteten hinter die Mauer.

Dort kauerten sie nun mit eingezogenen Köpfen etwa 20 Minuten lang, während immer wieder Schüsse fielen, die mal etwas weiter weg und mal bedrohlich nahe waren. Andere abgehängte Fahrer kamen hinzu, ein Fahrer hatte einen Nervenzusammenbruch und bekam Nasenbluten. Es muss eine furchtbare Situation gewesen sein, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man nicht dabei gewesen ist. Als sich die Lage einigermaßen beruhigt hatte, wurden endlich ihre großflächigen Sturzverletzungen versorgt und sie stiegen alle ins Auto, wollten vom Rennen nichts mehr wissen und fuhren ins Ziel. Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes kommt also nicht von ungefähr, wie wir heute leider erfahren haben.

Im Nachhinein hörten wir, dass es wohl ein Streit unter Nachbardörfern gewesen sein soll, der wegen der Anwesenheit von Polizei und Militär, die dort waren, um das Rennen abzusichern, schwer eskaliert ist. Wie und ob es jetzt mit der Rundfahrt weiter geht, ist noch unklar, es war die Rede davon, dass nur noch auf großen Hauptstraßen gefahren werden soll, aber manche Fahrer überlegen auch, nach Hause zu fliegen. Yannick und Christoph dürften sogar weiterfahren.

Die Etappe gewann übrigens wie bereits bei der Tour of Mersin Samoilau von Minsk und Adne van Engelen von Bike Aid wurde Dritter.

Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle

Gez. Sportfreund Radbert

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