Irrsinniger Sekunden-Kampf bei Tirreno-Adriatico

Von wegen Grün: Vollbeladene Teamautos geben Schiebewind

Von Felix Mattis

Foto zu dem Text "Von wegen Grün: Vollbeladene Teamautos geben Schiebewind"
Remco Evenepoel und sein Begleitfahrzeug im Einzelzeitfahren von Lido di Camaiore zum Auftakt des 57. Tirreno-Adriatico. | Foto: Screenshot aus der Eurosport-Live-Übertragung

09.03.2022  |  (rsn) – Sieben Etappen umfasst die Fernfahrt Tirreno-Adriatico. Vor allem auf den Teilstücken Nummer vier, fünf und sechs wird es topografisch schwer. Diese Tage in den Abruzzen und Marken sollten das "Rennen zwischen den zwei Meeren" entscheiden. Doch angesichts der Dichte im Favoritenfeld könnte es bei der Frage nach dem Gesamtsieger am Ende der Woche um Sekunden gehen.

Die Teams jedenfalls scheinen davon überzeugt zu sein, dass es so sein wird. Denn schon an den ersten beiden Fernfahrt-Tagen ist ein heißer Tanz um einzelne Sekundengewinne zwischen den Top-Favoriten entfacht – auf teils aberwitzige und fragwürdige Art.

Besonders sichtbar wurde der Sekundenkampf für die Zuschauer auf der 2. Etappe rund 30 Kilometer vor dem Ziel im toskanischen Ort Chiusdino, als Tadej Pogacar (UAE Team Emirates) kurz vor dem Zwischensprint aus dem Feld heraus beschleunigte, um sich eine Bonifikationssekunde zu sichern. Ein interessanter Schachzug, der aber auch alles andere als selten vorkommt und simple Renntaktik darstellt: Die Einen entscheiden sich, sitzen zu bleiben und Kräfte zu sparen, die Anderen schleudern für einige Sekunden ein paar Kohlenhydrate raus, um sich einen kleinen Vorteil zu erkämpfen. Soweit so gut und unaufregend.

Weniger offensichtlich, dafür aber viel gewiefter, war der Schachzug der Konkurrenz am Tag zuvor. Im 13,9 Kilometer langen Auftakt-Einzelzeitfahren von Lido di Camaiore setzte sich Filippo Ganna (Ineos Grenadiers) elf Sekunden vor Remco Evenepoel (Quick-Step – Alpha Vinyl) und 17 Sekunden vor Pogacar durch.

Ersatzrad-Sammelsurium soll rund eine Sekunde gebracht haben

Sowohl Ganna als auch Evenepoel bekamen dabei aerodynamische Hilfe von ihren Teamfahrzeugen. Nein, die Beiden fuhren nicht hinter ihren Autos im Windschatten, doch die Aerodynamik-Experten der Briten und Belgier griffen legal in die Trickkiste: Auf dem völlig flachen und weitgehend geradeaus führenden Kurs an der Küste packten sowohl die Ineos- als auch die Quick-Step-Mechaniker die Dächer der Teamfahrzeuge hinter ihren Zeitfahr-Assen mit Ersatzrädern voll.

Das geschah jedoch nicht, um im Falle eines Plattfußes die große Auswahl aus sechs bis acht verschiedenen Rahmengrößen zu haben, sondern der Aerodynamik wegen. Denn ein größeres Auto hinter dem Radfahrer bringt, das belegt unter anderem eine Studie in Zusammenarbeit der KU Leuven und der TU Eindhoven, einen aerodynamischen Vorteil.

Weniger Luftwiderstand beim Radfahrer, mehr beim Auto – und mehr Sprit

Während ein normales Auto, das hinter einem Radfahrer fährt, beim per Reglement festgelegten Mindestabstand von zehn Metern durch sogenannte "Schiebeluft" nur 0,2 Prozent Luftwiderstandsreduktion für den Radfahrer erzeugt, so erhöht sich dieser Effekt durch die Ersatzräder auf dem Dach deutlich. Der Aerodynamik-Spezialist Richard Kelso von der Universität von Adelaide hat gegenüber cyclingnews.com kalkuliert, dass das in Sachen Windangriffsfläche beinahe doppelt so hohe Auto so viel mehr Luft vor sich herschiebt, dass dadurch auf 50 Kilometern bei identischer Leistung des Radfahrers vor dem Auto 3,9 Sekunden Zeitersparnis drin seien – umgerechnet auf den 14-Kilometer-Kurs von Lido di Camaiore also gut eine Sekunde.

So dürfte Pogacar, dessen Teamfahrzeug am Montag nicht voll beladen war, mit seinem Spurt zur Bonussekunde am Dienstag in Chiusdino eben ziemlich genau das wieder ausgeglichen haben, was die Aerodynamik-Füchse der Konkurrenz am Montag herausholten.

Am Sonntag in San Benedetto del Tronto wird man sehen, wie wichtig die am Montag und Dienstag ergatterten Sekunden waren. Spätestens wenn der berühmte Dreizack, die Siegertrophäe bei Tirreno-Adriatico, dann doch mit größerem Vorsprung errungen wird, muss die Frage erlaubt sein, inwiefern die Aero-Spielchen vom Montag eigentlich im Sinne des Sports und vor allem dessen Images sind.

"Beim nächsten Mal benutzen wir den Mannschaftsbus"

Sicher ist es zu loben, wenn sich schlaue Köpfe im Rahmen des Reglements Dinge ausdenken, um einen Vorteil zu generieren. Das ist immer beeindruckend. Auf der anderen Seite aber ist es geradezu lächerlich, einerseits den Radsport als "grün" zu proklamieren und Klimaneutralität anzustreben – ja, damit hat gerade das Team Quick-Step schließlich in den vergangenen Jahren geworben, während man Ineos angesichts seines Fracking- und SUV-Hauptsponsors derartige Bestrebungen ohnehin nicht abnehmen kann - andererseits dann aber den Luftwiderstand seines Teamfahrzeugs bewusst zu verdoppeln und damit dessen Benzinverbrauch deutlich zu erhöhen, um minimale Wettbewerbsvorteile zu ergattern.

Ex-Profi Greg Henderson, der inzwischen als Coach bei Israel – Premier Tech tätig ist, scherzte auf Twitter angesichts der vollbeladenen Teamfahrzeuge von Quick-Step – Alpha Vinyl und Ineos Grenadiers nach dem Auftaktzeitfahren via Twitter: "Wir benutzen nächstes Mal den Mannschaftsbus für Alex Dowsett." Damit hat der Neuseeländer den Irrsinn wohl auf den Punkt gebracht.

 

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