Müllers Tour-de-Singkarak-Tagebuch

Ich habe jeden Kilometer gehasst

Von Robert Müller

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Robert Müller | Foto: Robert Müller

08.11.2018  |  (rsn) - Hallo aus Pasaman, West-Sumatra, Indonesien! Nach zwei Etappen für die Klassementfahrer sollte heute ein Tag für die Ausreißer werden, also hieß die Devise ganz klar: Attacke. Die 5. Etappe, wegen Überschwemmungen um 10 auf 150 Kilometer gekürzt, hielt je drei Sprint- und Bergwertungen bereit, davon die erste gleich nach 13 Kilometern.

Letztes Jahr hatte ich mich vor dieser Bergwertung, wegen der neun Haarnadelkurven Kelok 9 genannt, mit einer Gruppe abgesetzt und es bis ins Ziel geschafft. Damals war Matej Drinovec ebenfalls mit von der Partie, aber wir waren noch keine Teamkollegen. Ich wurde damals Zweiter von Matej, nachdem ich zu früh gejubelt hatte und direkt auf der Ziellinie noch um Zentimeter überholt wurde.

Ich hoffte auf einen ähnlichen Rennverlauf wie im Vorjahr und ging ab dem Ende der kurzen Neutralisation alle Attacken mit, doch diesmal ist das Rennen anders, die Gruppen werden nicht mehr so einfach von der Leine gelassen. Nach zehn Kilometern begann der Anstieg und ich hatte schon ordentlich einen im Schuh, musste mich ans Ende des Feldes zurückfallen lassen und konnte mich dort nur kurz festbeißen.

Irgendetwas stimmte nicht, ich konnte das nicht einmal so hohe Tempo nicht halten, obwohl ich nicht am Limit war. Ich konnte einfach nichts mobilisieren, machte mir aber deswegen keine zu großen Sorgen, da es nicht mehr weit bis zur Kuppe war. In der Abfahrt und dem anschließenden Flachstück wollte ich  den geringen Rückstand wieder aufholen.

Nach der Abfahrt war das Ende des Feldes auf den langen Geraden weit vorne zu sehen und ich vermisste etwas sehr Wichtiges, nämlich die Kolonne aus Teamfahrzeugen dahinter. Diese stellt die rettende Nabelschnur für alle Fahrer dar, die abgehängt wurden, wegen eines Sturzes oder Defekts zurückgefallen sind oder zum Pinkeln anhalten müssen. Solange man sich in der Autokolonne befindet, ist man in Sicherheit, aber wenn man dort einmal herausgefallen ist, hat man ein Problem und viele Rennen würden ohne dieses Sicherheitsnetz ganz anders verlaufen.

Die Kommissäre hatten eine Barrage errichtet und die Autos erst angehalten und dann einzeln in hohem Tempo an uns vorbei nach vorne geschickt, um zu verhindern, dass meine Gruppe in deren Windschatten die Lücke schließen könnte.

Eigentlich begrüße ich ein hartes Durchgreifen der Rennjury, was hier definitiv der Fall ist, denn jeden Tag werden etliche Fahrer und auch sportliche Leiter bestraft, weil sie "das Image des Radsports beschädigen“, wie es in der Ergebnisliste immer so schön heißt. Dahinter verbergen sich Vergehen wie im Windschatten eines Autos fahren, Klinke fahren (sich am Auto festhalten), Flaschen und Müll wegschmeißen oder den Anordnungen der Kommissäre nicht Folge leisten. Allerdings lassen sie hier meiner Meinung nach manchmal das nötige Feingefühl vermissen, denn nach einem Sturz oder Defekt hat man oft keine andere Wahl, als hinter dem Auto wieder in die Kolonne zu fahren, wenn man im Rennen bleiben möchte und ist sowieso schon genug gestraft.

Meiner Gruppe heute diese Möglichkeit zu verwehren war zwar im ersten Moment hart, jedoch fair den anderen gegenüber, die sich im Feld über die Bergwertung gequält hatten - schließlich waren wir wegen Schwäche zurückgefallen. Der Abstand nach vorne wurde sichtbar nicht geringer und ich wusste gleich, dass wir verdammt schlechte Karten hatten, wieder zurück zu kommen, wenn vorne keine Gruppe fahren gelassen würde und sie im Feld dann das Tempo nicht rausnehmen würden. In diesem Fall würde sogar die Karenzzeit, die ich nach kurzer Überschlagsrechnung bei ungefähr 25 Minuten verortete, eine ernsthafte Bedrohung sein, denn meine Gruppe von zunächst zwölf Fahrern lief überhaupt nicht gut und in dieser Konstellation verliert man verdammt viel Zeit.

Obwohl nicht religiös, betete ich, dass es nicht zu diesem Albtraum kommen würde und wir es wieder ins Feld schaffen würden und verfluchte mich und die bescheidene Situation, in die mich hineinmanövriert hatte. Ich fragte mich, wie es nur passieren konnte, dass ich an so einer eigentlich harmlosen Bergwertung abgehängt wurde und die Situation so falsch eingeschätzt hatte. An der zweiten Bergwertung kamen wir dann endlich näher und konnten das Ende der Kolonne  sehen und ich hatte die Hoffnung, die Lücke hier schließen zu können und nochmal mit einem blauen Auge davon zu kommen. Aber erneut konnte ich am Berg nichts mobilisieren und oben an der Wertung, als noch 100 Kilometer zu fahren waren, war mir endgültig klar, dass der Albtraum nun eingetreten war.

Mittlerweile waren wir nur noch zu fünft, wobei nur drei Fahrer Führungsarbeit leisteten und ich notgedrungen den Löwenanteil davon übernahm, damit wir im Gegenwind überhaupt voran kamen, obwohl meine Motivation auf dem absoluten Nullpunkt war. Leider war es nicht möglich, den Philippinern die Vorzüge eines gleichmäßigen Tempos zu vermitteln, was hier ein allgemeines Problem in den Gruppen ist. Viele Fahrer reißen in der Führung das Tempo hoch, sprengen damit die Gruppe, die sich dann wieder neu finden muss, es ist zum verrückt werden. Außerdem wird generell in Anstiegen stets erst einmal Vollgas hinein gefahren, ohne Rücksicht auf Verluste.

Die Etappe zog sich dahin wie Kaugummi und ich hasste jeden Kilometer, außerdem hasste ich den Radsport, Rennen zu fahren, die ständige Schinderei und den ab der Hälfte einsetzenden Regen, der die verdreckten Abfahrten rutschig und gefährlich machte. Ich schwor mir, mir nach dem Ende der Rundfahrt und dann 101 Renntagen und 29000 Kilometern in diesem Jahr endlich eine Pause und etwas Abstand vom Radsportzirkus zu gönnen.

So gerne ich normalerweise Rad und Rennen fahre, so wenig Spaß hatte ich heute, denn es macht einen himmelweiten Unterschied, ob man mit einer gut funktionierenden Gruppe vor dem Feld oder mit einer katastrophalen dahinter fährt. Was mich außerdem gehörig nervte, war der Umstand, dass wir keinerlei Informationen über unseren Rückstand bekamen, einmal sagte mir mein sportlicher Leiter "10 oder 15 Minuten“. Danke, so genau wollte ich es gar nicht wissen.

Der Zielbogen war dann eine Erlösung vom schlimmsten Tag in einem Rennen, an den ich mich seit langer Zeit erinnern kann, und wurde direkt nach unserer Durchfahrt abgebaut. Meine Stimmung besserte sich nicht gerade, als mir, während ich mir auf der Straße mit einer Wasserflasche den gröbsten Dreck abwusch, mitgeteilt wurde, dass der Transfer ins Hotel dreieinhalb Stunden dauern würde -es bleibt einem auch nichts erspart. Im Ergebnis sah ich dann, dass wir mit knapp 22 Minuten Rückstand ins Ziel gekommen waren und noch sechs Minuten Luft gehabt hätten. Wie ich mich nach diesem Drama heute für morgen wieder neu motivieren soll, weiß ich jetzt noch nicht, aber ich muss noch drei Tage durchhalten.

Geschenke des Tages: ein Strohhut und ein Zertifikat für das Überqueren des Äquators im Rennen, was ich jedoch leider nicht mitbekommen habe.

Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle

Gez. Sportfreund Radbert

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