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30.12.2015 | (rsn) - Zum Jahreswechsel hat sich Jochen Hahn, Teamchef des deutschen Zweitdivisionärs Stölting, einige Gedanken zum Thema Profiradsport und Doping gemacht. Der Berliner äußert sich in dem von ihm verfassten Beitrag über die diversen Aspekte des Sports und behandelt unter anderem die Frage, ob es möglich ist, die körperlichen Strapazen ohne Doping zu bewältigen.
Das Team Stölting war in den letzten drei Jahren in Deutschland die erste Adresse für ambitionierte Straßenradsportler, die sich nach ihrem letzten Juniorenjahr auf höchstmöglichem Niveau weiterentwickeln wollten. Mit dem Aufstieg des Teams in den bezahlten Radsport geht diese Ära zu Ende. Neun Fahrer, die in den letzten drei Jahren im Team Stölting vieles zum Thema Straßenradsport erlernt haben, werden in der Saison 2016 in verschiedenen Teams als Radprofis unterwegs sein und damit ihr Hobby zum Beruf machen. Anlass für mich, einige Überlegungen zum Thema "Berufswunsch Radprofi" vor dem Hintergrund der damit seit Jahren assoziierten Doping-Verdächtigungen öffentlich zu machen.
Warum dieser Artikel?
Wenn ein talentierter, erfolgreicher 17 oder 18-jähriger Straßen-Radsportler zum Ende seiner Junioren-Zeit darüber nachdenken muss, wie sein weiterer Lebensweg aussehen könnte, hat er eine ganze Reihe von Aspekten zu bedenken. Ausbildung, berufliche Perspektive, Privatleben..., es gibt viele Dinge, die dem von nahezu jedem Jugendlichen in dieser Situation gehegten Traum, als Radprofi sein Hobby zum Beruf zu machen, im Wege stehen können. Seit vielen Jahren aber gibt es eine Frage, die wohl alle anderen überlagert:
Kann man diesen Traum realisieren, ohne zu dopen, ohne zum Betrüger zu werden??
Dies ist eine Frage, die Ende der 90er Jahre, als ich zum ersten Mal mit jungen Radsportlern zu diesem Thema sprechen musste, auch gestellt, aber anders als heute beantwortet wurde: Damals gab es im deutschen Nachwuchsradsport die vorherrschende Meinung: Im U23-Bereich sollte nicht gedopt werden, aber was bei den Profis passiert ... . Es gab eine diffuse Gerüchteblase von "ohne Doping geht gar nichts" bis "es gibt da schon viele Mittelchen, aber in deutschen Teams ist natürlich alles sauber". Eine wirkliche Antwort hatte ich mit meinem damaligen Wissensstand auch nicht. Gute 15 Jahre später fällt die Antwort wesentlich klarer aus. In einem Satz ist die Frage aber auch nicht zu beantworten. Ich habe daher eine kleine Zusammenfassung von Fragen, die mir zu diesem Thema im Laufe der Jahre von Sportlern, Eltern, Trainerkollegen, Journalisten, Sponsoren u.a. gestellt wurden und meinen Antworten zusammengestellt. Ich hoffe, dass diese, aus meinen ganz persönlichen Erfahrungen im Profi- wie Nachwuchsradsport der letzten Jahre gewonnenen Antworten ein wenig helfen, einige Vorurteile zu überdenken. Weder eine unkritische "Hurra-Perspektive" noch eine übertriebene Schwarzmalerei werden der Sachlage gerecht. Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte.
Glaube ich an einen Sport ohne Doping?
Doping wird es solange geben, wie es im menschlichen Zusammenleben Betrug gibt. Maßgebend ist für mich nicht die Frage, ob es Sportler gibt, die betrügen. Entscheidend ist, dass durch Kontrolle und gesellschaftliche Ächtung die Wettbewerbsverzerrung so in Grenzen gehalten wird, dass der saubere Sportler zumindest eine reale Chance auf den Sieg hat. Gesellschaftliche Ächtung heißt für mich auch, dass dem Betrüger innerhalb der Szene kein augenzwinkerndes Verständnis entgegengebracht wird. Und diesen Zustand haben wir im Radsport nun glücklicherweise schon seit einigen Jahren erreicht. Wer heute im Profi-Radsport dopt, tut das mit dem sicheren Wissen, die Arbeitsplätze seiner Kollegen zu gefährden, seinen Arbeitgeber und seine Sponsoren zu betrügen. Leider wird es trotzdem immer wieder Sportler geben, die das ausblenden und es versuchen. Da hilft dann nur (intelligente) Kontrolle. Die Weiterentwicklung des Blutpassprogramms, Einfrieren und Nachkontrolle von Proben, Einschränkung der Allmacht der Sportverbände, Strafbarkeit sind nur einige Stichpunkte. Das Verhältnis von Risiko und möglichem Nutzen von Doping hat sich in den letzten Jahren klar verschoben.
Sind die immer wieder auftretenden positiven Dopingfälle im Radsport nicht beunruhigend?
Im Gegenteil, es würde mich beunruhigen, wenn niemand mehr positiv getestet wird. Es wird immer wieder Fahrer geben, die den Betrug wagen. Wenn niemand mehr erwischt (das heißt, nicht mehr vernünftig kontrolliert) wird, sinkt die Hemmschwelle und das Problem expandiert. Irgendwann kommt es wieder zu einer substanziellen Wettbewerbsverzerrung wie in den 90er Jahren.
Empfinde ich ein wenig Genugtuung, dass nun auch in anderen Sportarten, wie aktuell in der Leichtathletik, große Doping-Skandale aufgedeckt werden?
Zuallererst tun mir auf jeden Fall die sauberen, betrogenen Sportler leid. Ich bin mir sicher, dass es auch in der Leichtathletik genügend Sportler gibt, die ohne Doping Höchstleistungen erreichen. Pauschales Einprügeln auf alle Sportler bewirkt am Ende wie seinerzeit im Radsport nur, dass der Dopende sich in seinem Handeln bestärkt fühlt und der Saubere doppelt bestraft wird: Er wird vom Betrüger oft genug um den Sieg gebracht, und wenn ihm dann doch mal etwas gelingt, sieht er sich falschen Verdächtigungen ausgesetzt. Das ist extrem bitter.
Was halte ich von der Kronzeugenregelung?
Nicht allzu viel. Ein Sportler, der die Absicht hat, in das System zurückzukehren, dass ihn zum Dopen verführt hat, wird genau das erzählen, was ihn am wenigsten daran hindert, dies zu tun. Es werden bestenfalls Bruchstücke der Realität deutlich. Wesentlich glaubwürdiger erscheinen mir Geständnisse, die mit etwas zeitlichem und räumlichem Abstand von ehemals Beteiligten kommen, denen es gelungen ist, außerhalb der Szene Fuß zu fassen. Ohnehin habe ich die Erfahrung gemacht, dass dopende Sportler einige Jahre nach Karriereende eine wesentlich realistischere (und selbstkritischere) Sichtweise auf Ihr eigenes Handeln gewinnen. Das hängt natürlich damit zusammen, dass Doping immer auch Selbstbetrug ist.
Würde ich geständigen Dopern eine Chance in meinem Team geben?
Das müsste man von Fall zu Fall sehen, aber im Normalfall nicht. Ein Sportler, der über Jahre hinweg gedopt hat, wird nach meiner Erfahrung nicht mehr in der Lage sein, ohne Doping seine früheren Leistungen zu erbringen (aus physiologischen wie mentalen Gründen). Selbst wenn er mit allerbesten Absichten zurückkehrt, besteht früher oder später eine hohe Rückfallgefahr.
Sind sportliche Höchstleistungen nur durch Doping möglich?
Eine solch undifferenzierte Betrachtungsweise nutzt vor allem einigen Beteiligten: Der Pharmaindustrie, für die das eine unbezahlbare Marketingmaßnahme darstellt, Dealern und ähnlichen Halunken sowie einigen Pseudo-Experten, die eingängige Schwarz-Weiß-Malerei in diversen Medien besser verkaufen können. Natürlich ist es unbestritten, dass bestimmte Substanzen in bestimmten Sportarten unter bestimmten Umständen mindestens zeitweilig erhebliche Leistungssteigerungen hervorrufen können. Es ist auch unbestritten, dass im Zeitalter des Blutdopings Fahrer speziell bei dreiwöchigen Rundfahrten vorn gefahren sind, die das ohne EPO nicht geschafft hätten. Es gibt aber nach wie vor keine fundierten Studien, die beweisen, dass hochtalentierte und gut trainierte Ausdauerathleten nicht zumindest zeitweise auch sauber ähnliche Leistungen vollbringen können, wie sie mit Blutdoping möglich sind. Alle hierzu (speziell in jedem Juli anlässlich der Tour de France) geäußerten Experten-Meinungen beruhen auf Annahmen und persönlichen Erfahrungen, sind aber aus meiner Sicht wissenschaftlich nicht haltbar. Da ich als ein im Radsport erfolgreicher Trainer seit 1998 mit haltlosen Verdächtigungen leben muss, bin ich sehr vorsichtig mit Spekulationen jeder Art. Ich weiß aber aus eigener Erfahrung, dass bereits junge Fahrer an Tagen, wo mal alles stimmt, Leistungen erbringen können, die manche selbsternannte Experten schon als „höchst verdächtig“ einstufen.
Kann man eine dreiwöchige Rundfahrt wie die Tour de France ohne Doping überhaupt überstehen?
Natürlich. Es gibt weitaus härtere Ausdauer-Wettbewerbe wie das Race Across America, 24h-Läufe oder Ultratriathlons. Die Herausforderung bei der Tour besteht nicht darin, drei Wochen lang täglich vier bis sechs Stunden zu radeln. Limitierend ist vielmehr die Geschwindigkeit, mit der an Schlüsselstellen (meist Bergen) gefahren wird. Hier muss der Fahrer oftmals an seine Grenzen gehen, um seine Aufgaben im Team zu erfüllen. Je öfter er das muss, je größer wird die Gefahr, dass der Organismus kippt. Wenn natürlich eine größere Anzahl von Gegnern mit verbotenen Mitteln das Grundlevel anhebt, wird das Überleben schwieriger, aber noch lange nicht unmöglich.
Was halte ich von Lance Armstrongs jüngster Behauptung, dass viele Fahrer auch jetzt wieder ein nicht nachweisbares Mittel wie EPO verwenden würden?
Es ist natürlich richtig, dass ein über längere Zeiträume nicht nachweisbares Mittel mit scheinbar hohem Potenzial zur Leistungssteigerung die Probleme wieder verstärken würden.
Ich bin aber aus mehreren Gründen der Meinung, dass dieses Szenario mittlerweile recht unwahrscheinlich ist:
1) Die jahrelange Verschleppung des Nachweisverfahrens für EPO beruhte ja auf bewusster Untätigkeit der Sportfunktionäre, aber auch Sportpolitiker und viele Medien haben sich in dieser Zeit nicht wirklich überzeugend engagiert. Da hat sich mit Gründung von WADA, NADA, der personellen Neuausrichtung der UCI, sowie in Deutschland und anderen Ländern auch in Politik und Medien vieles positiv verändert. Es ist zumindest augenblicklich schwer vorstellbar, dass eine Passivität wie in den 90er Jahren so lange toleriert wird. (was nicht heißt, dass sich das in der Zukunft nicht mal wieder ändern kann)
2) Die Mentalität im Profiradsport hat sich schon aus biologischen Gründen verändert. In den 90er Jahren waren große Teile des Personals noch in ganz anderen sozialisiert worden. Und in dieser Zeit wurde das Verbot von medizinischen Substanzen von vielen Fahrern als Angriff auf ihre Menschenrechte angesehen. Die Regularien wurden ungefähr so ernst genommen wie heute noch vor kurzem das Rauchverbot in manchen Eck- Kneipen, ein Unrechtsbewusstsein war kaum vorhanden.
3) Ein von einem Team organisiertes großflächiges Dopingsystem müsste heute aufgrund der Vertrags – und Gesetzeslage mit einem weit höheren Maß an krimineller Energie organisiert werden. Gleichzeitig besteht aufgrund erhöhten Verfolgungsdrucks, aber auch neuer Kommunikationsmöglichkeiten ein erhöhtes Entdeckungsrisiko. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass ein systematischer Betrug in einem großen Team über längere Zeit nicht auffliegen würde.
Wie beurteile ich die gängige Meinung: ‘Wenn alle dopen, wird niemand betrogen!”?
Ich denke, das Ausufern des Doping in den 90er Jahren in den Ausdauersportarten war vor allem durchaus ein Systemproblem (wie oben schon erläutert). Das spricht aber den einzelnen dopenden Sportler nicht von jeder Schuld frei. Das moralische Recht zur Verurteilung einzelner Sportler in der Hoch-Zeit des EPO-Missbrauchs haben vor allem diejenigen, die damals betrogen wurden. Und entgegen der weit verbreiteten Meinung „Wenn alle betrügen, wird ja niemand betrogen“ gab es zu allen Zeiten Sportler, die sich dem Betrug aus verschiedenen Gründen entzogen haben. Diese Gründe können religiöser, ethischer (wer belügt schon gern seine Familie…?) Natur sein, aber auch die durchaus berechtigte Angst vor gesundheitlichen und langfristig leistungsmindernden Nebenwirkungen. Die Mehrheit dieser Fahrer hat früher oder später enttäuscht und von der Öffentlichkeit unbeachtet die Karriere beendet. Es gab aber natürlich auch Sportler, die durchgehalten haben und sich von dem Wissen, von vielen betrogen zu werden, nicht zu sehr haben beeinflussen lassen. Diesen Fahrern gilt mein größter Respekt.
Würde es nicht helfen, wenn Rennfahrer sich mehr Gedanken über mögliche Dopingverstöße Ihrer Gegner machten? Oder sogar mit Vermutungen an die Öffentlichkeit gehen? (Die Verweigerung solchen Tuns wurde speziell in Deutschland vor einigen Jahren als große Sünde bis hin zur moralischen Mittäterschaft gebrandmarkt).
Nein, auf keinen Fall!
Einerseits würde der moralische Schaden einer möglicherweise falschen Verdächtigung den moralischen Nutzen der Brandmarkung eines möglichen Dopers um ein Vielfaches übersteigen. Im Zweifelsfall muss immer noch die Unschuldsvermutung gelten.
Andererseits aber besteht der Schaden des Dopings ja nicht nur in der Leistungssteigerung des Betrügers. Der meiner Meinung nach noch größere Schaden entsteht, wenn der sich betrogen fühlende Sportler es nicht mehr schafft, die nötige Energie für seinen Sport aufzubringen!
Und das ist ein Problem, das nach meiner Erfahrung in den vergangenen Jahren viele Karrieren zerstört hat. Straßenradsport ist eine sehr komplexe Sportart. Er fordert Ausdauerfähigkeiten mit hohen Trainingsumfängen, Krafttraining bis ans Limit, viel koordinatives und motorisches Training sowie im Wettkampf taktische Fähigkeiten, Konzentrationsvermögen über viele Stunden und letztendlich in entscheidenden Augenblicken auch eine hohe Leidensfähigkeit. Zur Höchstleistung führt neben Talent nur eine enorme Bereitschaft in Training und Wettkampf in vielerlei Hinsicht an die eigenen Grenzen zu gehen. Diese Bereitschaft lässt automatisch nach, wenn nicht ein hoher Grundoptimismus vorhanden ist. Wer sich im Kopf zu sehr mit dem möglichen Betrug seiner Gegner beschäftigt, hat schon verloren.
Was halte ich vom (nicht verbotenen) Gebrauch von Schmerzmitteln in Wettkampf und Training?
Ich rate dringend davon ab. Der Gebrauch von Schmerzmitteln zur Unterdrückung von Muskelschmerzen führt nach meiner Erfahrung sehr schnell zu einem Verlust an Körpergefühl. (wie auch der Gebrauch von verbotenen Substanzen). Schmerz ist elementarer Bestandteil des Straßenradsports, wer das nicht aushalten kann, sollte sich eine andere Sportart suchen. Der Gebrauch von Schmerzmitteln führt sehr schnell in die Abhängigkeit, der Sportler kann sich dann ohne Mittel nicht mehr weh tun. In Verbindung mit den bei häufigem Gebrauch und hoher Dosierung verstärkt auftretenden Nebenwirkungen ist das eigentlich schon der Anfang vom Ende. Ähnliches trifft u.a. auch für den Gebrauch von Schlaftabletten zu.
Kann ich einem jungen Rennfahrer die Profikarriere mit gutem Gewissen empfehlen?
Ich hoffe, dass die vorangegangenen Antworten diese Frage größtenteils schon beantwortet haben. Wenn das Talent und der Kopf stimmen, aber auch nur dann, kann Radprofi heutzutage tatsächlich wieder ein sehr schöner, wenn auch harter Beruf sein. Auch wenn es nach meiner Meinung zur Zeit mit sauberen Methoden möglich ist, in der Weltspitze mitzuhalten, heißt das noch lange nicht, dass das jeder schaffen kann. Sicherlich ist ein junger Fahrer gut beraten, sich parallel zum Training Gedanken über andere berufliche Perspektiven zu machen. Man kann und soll es nicht zwingen. Mit einer Alternative im Hinterkopf kommt meist mehr heraus, als mit nur einem einzigen Plan.
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