Watterotts Mailand-San Remo-Retrospektive

La Classicissima - lange Fahrt in den Frühling / Teil 1

Von Herbert Watterott

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Herbert Watterott Foto: ROTH

20.03.2014  |  (rsn) - Auf radsport-news.com beleuchtet Herbert Watterott in dieser Saison die lange Geschichte der fünf Radsportmonumente Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich - Bastogne -Lüttich und Lombardei-Rundfahrt (Il Lombardia) und schildert die spannendesten und außergewöhnlichsten Episoden dieser größten Klassiker des internationalen Radsport-Kalenders.

Mailand-San Remo / Teil 1

Am Ende des 19.Jahrhunderts bewegt sich immens viel im internationalen Sport - und vor allem im Radsport. Drei Tage, bevor am 6.April 1896 die ersten Olympischen Spiele der Moderne in Athen beginnen, erscheint in Mailand die bis heute täglich erscheinende italienische Sportzeitung La Gazzetta dello Sport. Einer der Gründer und Herausgeber ist der italienische Jounalist Eugenio Camillo Costamagna.

Hervorgegangen ist La Gazzetta dello Sport aus der Fusion von Costamagnas Zeitung La tripletta („Drei Tore“) und Il ciclista („Der Radfahrer“) des Herausgebers Eliseo Rivera. Der Radsport ist von Beginn an einer der Schwerpunkte, La Gazzetta dello Sport organisiert die ersten Radrennen Italiens: im Herbst 1905 die Lombardei-Rundfahrt, 1907 die Premiere von Mailand-San Remo und 1909 den ersten Giro d’ Italia.

Costamagna hat auch die Idee, die Gazzetta dello Sport auf rosa Papier zu drucken, und der Spitzenreiter der Italien-Rundfahrt trägt von Beginn an die Maglia Rosa, das Rosa Trikot. Der Journalist und Musikliebhaber Costamagna verband die Farbe der Morgendämmerung mit dem Aufbruch in einen neuen Tag, in eine neue Zukunft, und das war für ihn ein gutes Omen für die Projekte des Radsports, die er entscheidend beeinflusste.

1907 – Der längste Klassiker der Welt
Das erste klassische Eintagesrennen einer jeden Saison hat seit seiner Premiere bis heute immer eine Streckenlänge von fast 300 Kilometern. Damit ist die Classicissima della Primavera (der Klassiker des Frühlings) stets die längste Eintagesprüfung für Profis im internationalen Kalender. Die genaue Streckendistanz variiert in 107 Jahren zwischen 281 und maximal 297 Kilometern. Mailand-San Remo gehört neben der Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und der Lombardei-Rundfahrt zu den fünf Monumenten des Radsports.

Der wichtigste und berühmteste Klassiker Italiens fand jahrzehntelang immer am Sankt-Josephs-Tag, dem 19. März statt. Im Zuge der Reformierung des internationalen Rennkalenders wurde die Klassiker auf das Wochenende fixiert. Bis 2012 war immer ein Samstag für Mailand-San Remo reserviert. Erst im letzten Jahr fand das Rennen aus Verkehrsgründen an einem Sonntag statt.

1907 – Die Premiere
Die Streckenführung von Mailand nach San Remo ändert sich von Jahr zu Jahr nur unwesentlich. Nach Binasco, Pavia, Voghera, Tortona, Novi Ligure und Ovada erreicht das Feld etwa nach der Hälfte der Distanz den Turchino-Pass, 532 Meter über dem Meer. Bei Voltri wird die Mittelmeerküste berührt und die Strecke schlängelt sich über Varazze, Savona, Spotorno, Finale Ligure, Albenga, Alassio, Capo Mele (65 m ), Capo Cervo-Mimosa (77 m), Capo Berta (130 m) , Imperia und San Lorenzo a Mare nach Riva Ligure über die berühmte und historische Via Aurelia.

Das Ziel ist in San Remo, der seit 1861 meistbesuchte, älteste und größte italienische Winterkurort, der auch durch sein Musikfestival und das Spielcasino berühmt ist.

Nach 281 Kilometern siegt der Franzose Lucien Petit-Breton. Der damals kompletteste Fahrer (Sieger Paris-Tours 1906, Tour de France 1907) erreicht nach dem Start morgens um vier Uhr in der lombardischen Metropole Mailand nach elf Stunden und vier Minuten das Ziel, nach ihm folgen noch weitere dreizehn Fahrer. Der Deutsche Willi Zeh aus Hamburg stürzt nach einer Karambolage von einer Brücke in den Po und gibt durchnässt vorzeitig auf. Die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt 26,606 km/h. Zum Vergleich: Heute liegt das Stundenmittel zwischen 40 und 44 km/h.

Die Teilnehmer des ersten Rennens bekommen übrigens eine Aufwandsentschädigung in Höhe von fünf Lire. Der Sieger erhält 300 Lire in Gold ausbezahlt.

1910 – Eis – Schnee – Wind – endlose Tortur und ein heroischer Sieg
Zur vierten Austragung von Mailand-San Remo haben sich 91 Fahrer gemeldet. 71 starten morgens um sechs Uhr in Mailand, die Strecke führt über 281 Kilometer. Es sollten nur vier Rennfahrer das Ziel an der Blumenriviera in San Remo erreichen - eine unvorstellbare Ausfallquote. Es wird der Triumph eines Mannes, der allen Unbilden des Wetters widersteht und weit hinter der vorausberechneten Marschtabelle abends um 18 Uhr nach 12 Stunden und 24 Minuten Fahrzeit am Ziel alleine eintrifft: Eugène Christophe aus Frankreich.

Er ist zum zweiten Mal am Start und kann nur ein paar Wörter italienisch. Unterwegs wird die Fahrt zu einem Martyrium. Schneidende Kälte, die Straßen sind voller Matsch und teilweise zugefroren. Am Turchino-Pass in 532 Metern Höhe fallen bis zu 25 Zentimeter Schnee. Christophe muss kurz vor dem Gipfel absteigen. Die Finger sind steif, die Füße taub, er zittert am ganzen Körper. Dann bekommt er Magenkrämpfe. Ein Einwohner entdeckt Christophe und nimmt ihn mit in sein Haus. Versorgt ihn mit einer Decke, warmem Wasser, Rum, einem Pullover, einer langen Hose und einer Mütze mit Ohrenklappen.

Christophe sieht vier Rennfahrer am Fenster vorbei huschen und steigt nach etwas 25 Minuten wieder auf sein Rennrad. Bis San Remo holt er die Ausreißer Cocchi, Pavesi, Ganna und Albini ein und gewinnt dieses Horror-Rennen.

Nur vier Fahrer werden in der Ergebnisliste geführt. Zweiter hinter Eugène Christophe wird Giovanni Cocchi, gefolgt von Giuseppe Marchese und Enrico Sala, alle aus Italien. Luigi Ganna - wegen Festhaltens am Auto - und Piero Lampaggi - der einige Kilometer mit dem Zug fuhr - werden disqualifiziert. Sante Goi kommt nach Kontrollschluss in der Dunkelheit an.

Eugène Christophe liegt anschließend einen Monat im Krankenhaus, um seine Erfrierungen an den Händen und Unterkühlungsschäden am Körper behandeln zu lassen. Es dauert weitere zwei Jahre, bis er wieder vollkommen gesund ist. Am 19.Juli 1919 bekommt er bei der Tour de France als erster Fahrer in der Geschichte das Gelbe Trikot des Spitzenreiters in Grenoble übergestreift. 

Teil 2 folgt.


Herbert Watterott ist einer der bekanntesten deutschen Radsportjournalisten. Der Rheinländer berichtete unter anderem von 1965 an 41 Mal für die ARD von der Frankreich-Rundfahrt und war für viele in Deutschland die „Stimme der Tour“. Seine Beschreibungen der einzelnen Etappen im TV hatten Kultstatus. Seit 2006 ist der mittlerweile 72-Jährige im Ruhestand, dem Radsport bleibt Watterott aber bis heute eng verbunden.

Auf radsport-news.com beleuchtet Herbert Watterott in dieser Saison die lange Geschichte der fünf Radsportmonumente Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttoch Bastogne-Lüttich und Lombardei-Rundfahrt (Il Lombardia) und schildert die spannendesten und außergewöhnlichsten Episoden dieser größten Klassiker des internationalen Radsport-Kalenders.

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