Kellers Guadeloupe-Tagebuch

Im Schlussanstieg musste sogar das Auto geschoben werden

Von Hermann Keller

Foto zu dem Text "Im Schlussanstieg musste sogar das Auto geschoben werden"
Hermann Keller (2.v.r) und seine Teamkollegen von Embrace the World | Foto: Team Embrace the World

15.08.2022  |  (rsn) - Wie gestern schon erwähnt, ging es heute (Sonntag) nach kurzer Fahrt direkt in den Passanstieg zum Vulkan. Jeder wusste, dass die heutige Etappe entscheidend sein würde im Kampf um das Gesamtklassement, weshalb auch eine sehr hohe Anspannung zu spüren war. Zu Beginn des Anstiegs wurde zur Abwechslung eher verhalten gefahren.

Doch nach zwei oder drei Kilometern am Berg wurde es dann doch so gehandhabt, wie bisher auch: Die Favoriten griffen an. Da Oli (Matheis) sehr gut positioniert war und ich nicht helfen konnte, waren die Angriffe für mich das Startsignal, meinen eigenen Rhythmus zu fahren, was auch sehr gut funktionierte. Nach der Hälfte des Berges fuhr erst Marcel (Peschges) und direkt dahinter Fabian (Kruschewski) an mir vorbei.

Ich führte ein Gruppetto von etwa 30-40 Fahrern über die Bergkuppe, konnte aber trotz ständigen Umsehens Thomas (Lienert) nirgends ausmachen. In der Abfahrt ließ ich es auch eher ruhiger angehen, in der Hoffnung, er würde noch von hinten zu unserer Gruppe stoßen, dies geschah aber leider nicht. Unsere Gruppe lief erstaunlich gut, beinahe alle Fahrer führten mit und so schien das Zeitlimit für mich kein Problem zu werden – bis ich dann einen Platten hatte.

Trotz der Größe unserer Gruppe war kein neutraler Materialwagen hinter uns, unser Materialwagen war vorne bei Oli, der einzige Wagen hinter unserer Gruppe (der eines einheimischen Teams) fuhr an mir vorbei und auch die Motorräder schüttelten nur mit dem Kopf, als ich mit meinem Hinterrad wedelnd an der Straße stand. Minute um Minute verging, aber leider kam keine Hilfe. Nach einer gefühlten halben Stunde (es waren wohl eher 15 Minuten) kam Thomas an mir vorbei und ich dachte, die Rettung sei da. Wir hatten nämlich für genau solche Fälle eine Satteltasche im Auto und diese dem Fahrer gegeben, der als erstes abgehängt wurde. Er kam jedoch sehr schnell, ich stand in einer Abfahrt und war zudem noch umringt von Zuschauern, die mir alle helfen oder zumindest mal den Platten Reifen anfassen wollten - und so kam es, dass er mich nicht sah.

Mir blieb nichts anderes übrig, als in den Besenwagen zu steigen, meine Nummer abzumachen und die Rundfahrt aufzugeben. So hatte ich mir das Ganze zwar nicht vorgestellt, gerade, da morgen noch eine Etappe kommen sollte, auf der ich mir einiges ausgerechnet hatte, aber kann man nun mal nicht ändern.

Während ich also im Besenwagen hinter Thomas herfuhr, ging es vorne heiß her. Die Rede ist hierbei aber nicht von dem Kampf um die Gesamtwertung, sondern von dem Faustkampf zwischen der Premier-Tech-Mannschaft und dem Team Corratec. Das eine Team warf dem anderen Bestechlichkeit vor, soweit ich das mitbekommen habe, worüber dieses dann wiederum nicht so begeistert war. Auch in der Lobby nach der Etappe kam es nochmal zu einem Handgemenge, Fäuste flogen hier aber keine mehr. Im Ergebnis wurden dann alle drei verbleibenden Fahrer des Corratec-Teams mit 100 Schweizer Franken Strafe sowie 15 UCI-Punkten Abzug bestraft.

Doch auch das Rennen wurde hart ausgefahren. Nach dem Vulkan hatte sich eine Spitzengruppe um den wohl stärksten Fahrer dieser Rundfahrt und Vorjahressieger Stefan Bennett gebildet. Dahinter war eine größere Verfolgergruppe, in der auch Oli unterwegs war. Der bekam aber bald Probleme und musste immer wieder an den kurzen, steilen Rampen reißen lassen. Ihm scheinen die gleichmäßigen, längeren Anstiege besser zu liegen. Oli kämpfte sich aber immer wieder zurück zur Gruppe und kam mit dieser auch in den Schlussanstieg.

Wie es dort genau ablief, kann ich leider nicht sagen. Der Anstieg war aber so steil, dass unser Begleitauto den Geist aufgab und die letzten Meter geschoben werden musste. Die Zuschauer bejubelten unsere Betreuer dabei aber mehr als jeden Radfahrer.

Oli machte seine Sache gut, kam auf den zwölften Etappenplatz und ist dadurch nun Zehnter im Gesamtklassement. Irgendwann später kam Marcel mit seiner Gruppe, nochmal weiter zurück dann Fabian mit einer weiteren Gruppe (die im Schlussanstieg dann auch noch von meinem ehemaligen Gruppetto aufgefahren wurde) und nochmal ein sehr weites Stück kam Thomas, dicht gefolgt von mir im Besenwagen.

Ich konnte genau beobachten, wie Thomas sich Kurve um Kurve nach oben kämpfte. Der Anstieg war zwar nur geradeaus, aufgrund der Steigung fuhr er aber Schlangenlinien. Selbst Betreuer von anderen Teams feuerten ihn energisch an und schoben ihn ein paar Meter an. Schlussendlich schaffte er es, obwohl er die ganze Etappe alleine unterwegs war, noch im Zeitlimit ins Ziel – auch zu meiner Überraschung.

So können die Jungs morgen die letzte Etappe in Angriff nehmen, um den zehnten Platz von Oli zu verteidigen, nur leider ohne mich. Somit endet auch mein Tagebuch mit diesem Eintrag, aber vielleicht findet sich morgen noch ein anderer Fahrer, um vom letzten Tag und eventuellen weiteren Faustkämpfen zu berichten.

Vielen Dank fürs Lesen und bis dann
Hermann

Mehr Informationen zu diesem Thema

13.08.2022Der Bus wird von Tag zu Tag leerer

(rsn) - Als wir gestern einschliefen, hatten wir uns schon immens gefreut, etwas länger schlafen zu können, da der Bus erst um 9 Uhr abfahren sollte. Dieser Bus transportiert übrigens von Tag zu Ta

12.08.2022Gruppetto-Bildung im Stile eines Puppenspielers

(rsn) - Marcel Peschges scheint einfach ein Händchen für spektakuläre Starts bei TV-Beteiligung zu haben. Im Höhenprofil war es nicht so ganz deutlich eingezeichnet, aber auch heute ging es wieder

11.08.202270 Kilometer vor dem Ziel zog ich ein Parkticket

(rsn) - Heute standen 148 schwere Kilometer auf dem Programm. Wie gestern erwähnt, war der Plan, jemanden in der Spitzengruppe unterzubringen, um dann nach dem Anstieg zum Vulkan noch einen Helfer f

10.08.2022Was ist schon Paris-Roubaix im Vergleich zur Tour de Guadeloupe?

(rsn) - Das Tolle an Rundfahrten wie dieser sind auch der rege Austausch mit anderen Teams und die Begegnungen mit alten Bekannten. So fährt Matias Fitzwater, ein Neuseeländer, der 2019 mit uns als

09.08.2022Zu erschöpft? Von wegen!

(rsn) - Wieder einmal klingelte um 6 Uhr der Wecker, allerdings war es heute der erste Morgen, an dem ich mich nochmal auf die andere Seite gedreht habe und erst später zum Frühstück kam. Auch am B

08.08.2022“Da wird niemand mehr kommen, fahr´ einfach!“

(rsn) - Wie jeden Morgen klingelte auch heute um 6 Uhr der Wecker und wir begaben uns auf zum Frühstück. Danach ging es dann zum Verladen der Räder – im strömenden Regen. Somit wurden wir auch

07.08.2022Ich hatte den Sieg schon vor Augen

(rsn) - Hallo zusammen, heute stand nach dem gestrigen Auftaktzeitfahren die erste Straßenetappe der Tour der Guadeloupe (2.2) an. Diese wurde auf dem östlichen Inselteil über 156 Kilometer ausget

06.08.2022Wir sind nicht nur zum Baden gekommen

(rsn) - Hallo zusammen, ich darf euch die nächsten Tage von unseren Erlebnissen bei der Tour Cycliste International de la Guadeloupe (2.2) berichten. Die Tour wird über zehn Etappen und insgesamt 1

Weitere Radsportnachrichten

18.11.2025Gaviria vor Wechsel zu Caja Rural?

(rsn) - In unserem ständig aktualisierten Transferticker informieren wir Sie regelmäßig über Personalien aus der Welt des Radsports. Ob es sich um Teamwechsel, Vertragsverlängerungen oder Rücktr

18.11.2025Die Radsport-News-Jahresrangliste der Männer 2025

(rsn) – Es ist inzwischen RSN-Tradition. Und auch wenn sich mit Christoph Adamietz der Vater der Idee vor einem Jahr aus unserem Autoren-Team verabschiedet hat, so soll diese Tradition fortgesetzt w

18.11.2025Zwischen Abitur, DM-Medaillen und WorldTour-Einsätzen

(rsn) - In der Juniorenklasse gehörte Paul Fietzke zu den weltweit besten Fahrern. Medaillen bei Europa- und Weltmeisterschaften, der Deutsche Meistertitel auf der Straße sowie Siege bei internati

17.11.2025Lipowitz will nicht zum Giro und hofft auf Tour-Doppelspitze

(rsn) – Mit Blick auf ihre Meriten bei der Tour de France befinden sich Florian Lipowitz und Remco Evenepoel in ähnlichen Sphären. Doch was ihren Charakter angeht, könnte das Duo, das im Sommer n

17.11.2025Müllers Team gewinnt Prolog – und hat morgen frei

(rsn) - Robert Müller ist wieder auf Achse. Wer seine Berichte aus den unterschiedlichsten Ecken der Radsport-Welt – von Südamerika bis Asien – kennt, weiß: Wenn "Radbert" unterwegs ist, wird e

17.11.2025ASO spricht sich gegen Ticket-Einnahmen aus

(rsn) – In der Debatte um die zukünftige Finanzierung des Radsports hat die Großmacht ASO, die neben der Tour de France weitere entscheidende Rennen im WorldTour-Kalender und den ebenen darunter o

17.11.2025Road Captain will auch “persönliche Freiheiten“

(rsn) – Von den noch aktiven Profis ist Kim Heiduk der letzte Deutsche, der aus einem einheimischen KT-Team, nämlich Lotto – Kern Haus, den Wechsel ins Lager der Berufsradfahrer geschafft hat. Ei

17.11.2025Ferrand-Prévot plant zwei Saisonhöhepunkte

(rsn) – Mit dem Tour-de-France-Sieg in der Tasche und einer Knöchel-OP, die noch ein paar Wochen Pause mit sich bringen wird, geht Pauline Ferrand-Prévot in den Winter und ins neue Jahr. Und damit

17.11.2025Chancen genutzt, doch für den Sieg hat es nicht gereicht

(rsn) – Vor seinem letzten U23-Jahr entschied sich der junge Österreicher Sebastian Putz für einen Wechsel. Er schloss sich dem Team Red Bull - Bora – hansgrohe Rookies an, um sich dort für zuk

17.11.2025Prag buhlt um den Grand Depart

(rsn) – Die Liste an kommenden potenziellen Tour-Starts in den kommenden Jahren wird immer länger. Auch Tschechien hat sich jetzt mit Prag in Stellung gebracht und ASO-Chef Christian Prudhomme bei

16.11.2025Kein Highlight, aber einige Male nah dran am Sieg

(rsn) – Die erste Saison, in der sich Alexandre Balmer (Solution Tech – Vini Fantini) komplett auf die Straße fokussierte, begann für den 25-Jährigen denkbar unglücklich. Bei der Trofeo Laigue

16.11.2025Oertzen fährt bei Garneks Überraschungssieg nächstes Podium ein

(rsn) – Einen Tag nach seinem zweiten Platz in Owocowy Przelaj (C2) hat Max Heiner Oertzen (Radsport Nagel) in Wladyslawowo-Cetniewo (C2) den nächsten Podiumplatz eingefahren. Beim Überraschungser

RADRENNEN HEUTE

    Radrennen Männer

  • Tour de Gyeongnam (2.2, KOR)