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12.04.2020 | (rsn) - Judith Haudum ist selbstständige Sportwissenschaftlerin und Ernährungsberaterin. Am Olympiazentrum in Salzburg leitet die Österreicherin die Ernährungsbetreuung. Im Radsport arbeitet sie mit Fahrern und Fahrerinnen von World Tour / Women‘s World Tour und Pro Continental-Teams zusammen. Zuvor begleitete Haudum als Head of Nutrition das BMC-Racing-Team auf der WorldTour. Zudem lehrt sie an der Universität Salzburg sowie an der Fachhochschule in Bern.
Frau Haudum, seit wann arbeiten Sie als Ernährungsberaterin und wie sind Sie zum Profiradsport gekommen?
Judith Haudum: Ich habe in den USA Sporternährung studiert. Schon während meines Studiums habe ich mich für Radsport interessiert, mich mit Radsportlern getroffen und entsprechende Praktika absolviert. Damals hatte ich auch Kontakt zu Fahrern von US Cycling (US-Radsportverband), das war für mich der erste Kontakt in den Profiradsport. Seitdem bin ich auch dabei geblieben.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag in Corona-Zeiten aus?
Haudum: Im Gegensatz zu früher bin ich jetzt schon sehr viel zuhause. Ich arbeite mit Fahrern und Fahrerinnen unterschiedlicher Teams und versuche üblicherweise schon, diese regelmäßig zu treffen, weil persönlicher Kontakt sehr wichtig ist. Ich bin dann recht viel unterwegs, etwa in Trainingslagern, oder besuche meine Sportler zum Teil auch daheim. Diese Reisen entfallen natürlich jetzt, dennoch ist der Aufwand derzeit fast sogar etwas größer, weil die Struktur fehlt. Es gibt kein Ziel, auf das man hinarbeiten kann. Ich habe mit vielen meiner Sportler täglich Kontakt, dann sprechen wir am Morgen das Training durch und stimmen danach die Ernährung ab. Abends sprechen wir über das Training und ihre Eindrücke darüber. Und auf den entsprechenden Online-Plattformen schaue ich mir ihre Leistungsdaten an. Ich versuche in diesen Zeiten aber auch, den Sportlern für einige Tage den wichtigen und notwendigen Freiraum zu geben und sage ihnen: “Lass mich jetzt mal weg, melde dich, wenn du was brauchst, aber versuche, im Kopf frei zu werden und Abstand zu gewinnen.“
Lässt sich das alles digital regeln?
Haudum: Wir kommen damit relativ gut klar. Zum einen verteilt sich das über die Woche; zum anderen betreue ich ja auch Sportler über Europa hinaus, sei es in Australien oder Argentinien, und da haben wir ohnehin die räumliche Distanz. Ganz wichtig ist mir dabei, Video mit einzuschalten, weil das auch eine gewisse Nähe bringt. Aber da ich ja nicht Teil eines Teams bin und die Fahrer auf mich zukommen, um sich beraten zu lassen, besteht natürlich eine große Vertrauensgrundlage - es ist also auch eine andere Art der Zusammenarbeit.
Wie sehen die Ernährungspläne in diesen rennfreien Zeiten aus und gibt es Unterschiede gegenüber der Ernährung während der Rennsaison?
Haudum: Da es derzeit kein Rennprogramm gibt, haben viele jetzt schon eine Pause eingeschoben. Und wenn sie trainieren, dann eher geringe Umfänge, kurze Ausfahrten, von der Intensität her alles reduziert. Die, die gar nicht rauskommen, machen eh kurze Einheiten auf der Rolle. Für die Ernährung bedeutet dies, dass sich die Menge der Kohlenhydrate reduziert und zugleich der Anteil von Gemüse und Salat an den Mahlzeiten größer wird. Kohlenhydrate bleiben dabei, aber es sind zu mehr als 90 Prozent vollwertige Sorten. Man könnte jetzt sämtliche schnell verfügbare und einfach verdauliche Kohlehydrate weglassen, weil man sie zur schnellen Energieversorgung nicht benötigt.
Ist Gewichtsverlust derzeit dennoch ein Ernährungsziel oder stehen andere Aspekte im Vordergrund?
Haudum: Jetzt in der Klassikersaison hätte man auch von der Ernährung her einen ganz anderen Rhythmus. Es gäbe einen Wechsel von Renntag zu ein bis zwei Tagen Pause, dann wieder von einem Renntag gefolgt. Und da an diesen Renntagen der Energieverbrauch enorm ist, muss man sie mit Energie vollpacken. An den rennfreien Tagen muss man dann die Portionen reduzieren, weil sie der Regeneration dienen und der Energieverbrauch weniger hoch ist.
Im Radsport ist das Thema “Gewichtsverlust“ grundsätzlich enorm wichtig und es gibt viele Radfahrer, die versuchen, ihr Gewicht niedrig zu halten. Deshalb ist bei vielen leider über einen sehr langen Zeitraum die Energiezufuhr unzureichend. Zunächst reduziert sich das Gewicht, aber aufgrund des sogenannten relativen Energiedefizits im Sport (sogenannte relative energy deficiency in sports) geht es irgendwann nicht mehr weiter nach unten, auch wenn man noch weniger isst. Das bringt auch hormonelle Veränderungen mit sich und hat gesundheitliche Konsequenzen.
Deshalb ist allgemein, aber auch speziell in dieser Situation "Gewichtsmanagement“ ein wichtiges Thema. Manche Fahrer müssen mehr essen, um den Stoffwechsel wieder zu normalisieren. Auch wenn es paradox klingt, aber indem sie mehr essen, können sie auch leichter an Körpergewicht verlieren. Der Grund ist, dass sie aufgrund der hormonellen Veränderung nicht mehr weiter an Gewicht verlieren, auch wenn sie sehr wenig essen. Der Körper ist sozusagen in einem Überlebensmodus. Daher ist es jetzt allgemein für manche Fahrer eine gute Zeit, dem Körper die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Dabei kann es sein, dass das Gewicht nach unten geht, obwohl sie mehr essen, weil sich die ganze Stoffwechselsituation normalisiert hat. Darum ist diese Zeit jetzt für manche gar nicht so ungünstig, weil sie sich damit auseinandersetzen können.
Radprofis haben einen geringen Körperfettanteil und bewegen sich dabei während der Rennphase oft im Grenzbereich. Ist es daher nicht sinnvoll, derzeit etwas an Gewicht zuzulegen, um dann wieder ans Limit zu gehen, wenn die Wettkämpfe stattfinden?
Haudum: Es geht nicht unbedingt darum, an Gewicht zuzulegen, sondern dem Körper mehr Energie zuzuführen. Viele Radfahrer haben ja Angst davor, zu viel zu essen, weil sie dann zunehmen. Jetzt kann man sich die Zeit nehmen, um dem Körper die Energie zu geben, die er an einem Trainingstag braucht und damit auch die gesundheitlichen Probleme wieder in ein Gleichgewicht bringen. Und das ist jetzt, bei den geringeren Umfängen, auch leichter als bei fünf-, sechsstündigen Trainingseinheiten pro Tag, an denen der Energieverbrauch auch relativ hoch ist. Das bedeutet aber nicht, dass das Gewicht nach oben geht, sondern dass die Energiezufuhr an den Verbrauch angepasst wird.
Worin unterscheidet sich die Ernährung eines Bergfahrers, eines Sprinters oder eines Zeitfahrspezialisten?
Haudum: Grundsätzlich gibt es da keine Unterschiede. Trainings- und Energieverpflegung sowie Regenerationsmaßnahmen sind sicherlich gleich. Die Physiologie der einzelnen Fahrertypen ist ganz ähnlich. Natürlich unterscheidet es sich im Energieverbrauch, ein Bergfahrer mit niedrigem Körpergewicht benötigt weniger Energie als ein Sprinter mit entsprechender Muskelmasse. Ähnliches gilt für die Flüssigkeitszufuhr, ein muskulöser Fahrer neigt eher zur Dehydrierung. Das sind Aspekte, auf die man reagieren muss.
Gibt es derzeit Unterschiede zu einer Phase etwa im November/Dezember, in denen ja auch keine Rennen stattfinden und ähnlich ruhig trainiert wird?
Haudum: Der Unterschied ist eher dem Klima und den Temperaturen geschuldet. Aufgrund der fast schon sommerlichen Temperaturen ist es jetzt schon eine andere Situation für die Fahrer, wenn es um Energieverpflegung oder um Flüssigkeitszufuhr geht. Aber es ist schon so, dass viele sagen: “Wir machen einen ‘zweiten November oder Dezember‘", also einen zweiten Aufbau. Deshalb werden auch viele Trainingseinheiten genauso abgehalten. Bei dem, was auf den Tisch kommt, unterscheidet sich natürlich die Auswahl, weil im Frühjahr andere Gemüsearten beispielsweise in Saison sind.
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