Momente für das Giro-Geschichtsbuch

Als den Panta-Tifosi das Herz brach

Von Guido Scholl

Foto zu dem Text "Als den Panta-Tifosi das Herz brach"
Marco Pantani in Riso beim Giro 1999 | Foto: HENNES ROTH

07.05.2017  |  (rsn) - Der Giro d'Italia 1999 sollte zur großen Show des Marco Pantani werden. Doch anstelle einer Gala entwickelte sich das Rennen zum Drama, das im Rückblick die Tragödie einleitete, in deren Verlauf der große Kletterer einen viel zu frühen Tod starb. Pantani wurde – an der Spitze liegend - wegen eines überhöhten Hämatokritwerts ausgeschlossen, an dem damit verbundenen Dopingvorwurf ging er zugrunde.

Die Presse hatte im Vorfeld mächtig die Werbetrommel gerührt und ein Duell der damals weltbesten Kletterer heraufbeschworen: Marco Pantani, der Sieger von Giro und Tour des Vorjahres, sollte sich mit Jose Maria Jimenez, dreimaliger Bergkönig der Spanienrundfahrt und Gesamtdritter der Vuelta 1998, messen. Außerdem sollte Oscar Camenzind, trotz Helferaufgaben für seinen Kapitän Pavel Tonkov im Jahr zuvor Gesamt-Vierter, eine große Rolle spielen. Und die Italiener waren mächtig stolz, dass sich der damals vielseitigste Rennfahrer überhaupt, Laurent Jalabert, beim Giro die Ehre gab. Hinzu kamen die starken Italiener Ivan Gotti, Sieger von 1997, Paolo Savoldelli und Gilberto Simoni.

Ein wahrlich starkes Teilnehmerfeld, das die Hoffnung schürte, Pantani würde aus einer spektakulären Rundfahrt erneut als strahlender Sieger hervorgehen. Die erste Rennhälfte war vielversprechend. Jalabert kniete sich mächtig rein, gewann die Ankunft in Terme Luigiane und übernahm nach der Bergankunft am Monte Sirino, wo Chepe Gonzalez seinen letzten großen Sieg feierte, das Rosa Trikot. Drei Tage später stand die erste schwere Kletterprüfung am Gran Sasso d'Italia auf dem Programm, die Pantani vor Jimenez und Gotti für sich entschied, womit er auch Rosa überstreifte.

Pantani begann aufzudrehen

Im Zeitfahren tags darauf schlug Jalabert wiederum zu und holte sich Rosa um die Winzigkeit einer Zehntelsekunde zurück. Bis zur 14. Etappe blieb der Franzose vorn, dann begann Pantani aufzudrehen. Savoldelli gewann jenen Tagesabschnitt als Ausreißer, Jalabert hatte den Anschluss an die Verfolgergruppe um Pantani verpasst, der wieder in Rosa gekleidet wurde. Die folgende Etappe führte hinauf nach Oropa, und Pantani ließ sich selbst von einem Defekt kurz vor Beginn der Schlusssteigung nicht stoppen – verwies Jalabert um 21 Sekunden auf Platz zwei.

Der Franzose blieb hartnäckig, gewann zunächst die 16. Etappe und nahm dem „Piraten“ im Zeitfahren zwei Tage später 57 Sekunden ab, wodurch er auf 1:09 Minuten an den Mann in Rosa heranrückte. Savoldelli lag als Zweiter gar nur 44 Sekunden zurück. Der Giro schien wieder offen, doch Pantani gewann die Bergankunft in Alpe di Pampeago mit großem Vorsprung, fortan trennten ihn Minuten von seinen Gegnern. Auf dem Weg nach Madonna di Campiglio sollte es Pantani eigentlich locker angehen lassen und sich für die Königsetappe über Gavia und Mortirolo am Tag darauf schonen – so die Marschroute seiner Equipe.

Eine ungefährliche Spitzengruppe mit Pascal Richard, Paolo Bettini, Daniele de Paoli, Hernan Buenahora und Mariano Piccoli war vorn weg. „Il pirata“ ließ sein Mercatone Uno-Team dennoch arbeiten, um den Abstand einzudampfen. Nach der Hälfte des Schlussanstiegs griff Pantani an und löste sich aus der Favoritengruppe. Als letzten Ausreißer ließ er Buenahora stehen und gewann mit nochmals 67 Sekunden Vorsprung, womit Savoldelli als erster Verfolger in der Gesamtwertung bereits 5:38 Minuten hinter seinem Landsmann lag. Der Giro war scheinbar entschieden.

Ein Hämatokritwert von 52

Am Abend nach seinem 4. Etappensieg jenes Giro wurde Pantani informiert, dass er am folgenden Morgen – es war mal wieder ein 5. Juni – einen Hämatokrit-Test würde abgeben müssen. Das Ergebnis: 52% rote Blutkörperchen. Die UCI hatte schon damals, um das Epo-Doping einzudämmen, ein Maximum von 50 verhängt. Pantani galt somit nicht als gedopt, wurde aber zum Schutze seiner Gesundheit aus dem Rennen ausgeschlossen.

Italien wurde an diesem 5. Juni von einem sportlichen Erdbeben erschüttert. Den seit Tagen feiernden Panta-Tifosi, den eingefleischten Pantani-Fans, brach das Herz. Im Fernsehen, gab es nur ein Thema, und es herrschte eine Meinung vor: Marco Pantani konnte unmöglich gedopt haben. Der Mann, der die Berge beinahe hinaufflog, brauchte doch keine Spritzen und Pillen für seine Siege. Schnell verselbständigten sich Verschwörungstheorien: Die Wettmafia wollte horrende Gewinne machen, indem sie Wetten auf Giro-Gesamtsieger abschließen ließ, die nicht Pantani hießen. Die Quoten für die ärgsten Verfolger waren riesig hoch.

Eine andere Variante lautete, dass die Überlegenheit Pantanis der UCI ein Dorn im Auge war. Der damalige Präsident des Radsport-Weltverbands hatte zufällig in eben diesen Tagen dem Giro einen Besuch abgestattet. Hatte jemand dem „Piraten“ einen manipulierten Test untergejubelt? Wie abstrus – gerade die UCI musste eher ein Interesse gehabt haben, nach dem Festina-Skandal von 1998 Ruhe an die Doping-Front zu bekommen.

Zudem kam der hohe Hämatokritwert nicht ganz so unerwartet. Pantani soll schon nach seinem schlimmen Unfall bei Mailand-Turin 1995 im Krankenhaus einen extrem hohen Level an roten Blutkörperchen aufgewiesen haben. Und es gab Gerüchte, dass beim Giro 1998 ein Teamkollege für Pantani über die Klinge gesprungen war: Nach der 21. Etappe wurde Riccardo Forconi wegen eines zu hohen Hämatokritlevels aus dem Giro genommen. Angeblich hatte Pantani die zugehörige Probe abgegeben, und die Rennleitung hatte geholfen, den Skandal zu vertuschen.

Pantani wird suspendiert

Zu belegen ist all dies nicht. Fest steht, dass sich Pantani auf den Tag genau fünf Jahre nach seinem ersten großen Ausrufezeichen in einer Italienrundfahrt – seinem Etappensieg in Aprica 1994 – vom Giro verabschieden musste. Mehr noch: Sein gesamtes Team zog sich zurück. Ausgerechnet auf der Etappe, die wieder über Gavia und Mortirolo nach Aprica führen sollte.

Das Rennen war plötzlich wieder offen: Savoldelli, Gotti und Jalabert lagen nur 61 Sekunden auseinander. Gotti ergriff die Gunst der Stunde und setzte sich am Mortirolo mit Roberto Heras und Gilberto Simoni ab. Heras gewann die Etappe, Gotti übernahm Rosa von Savoldelli, der das Leibchen an jenem Tag aber nicht hatte tragen wollen. „Il Falco“ kam 4:05 Minuten hinter dem Tagessieger an und wurde Gesamtzweiter, Jalabert büßte 4:45 Minuten ein und rutschte hinter Simoni auf Gesamtrang vier.

Dieser Giro 1999 hatte skurrile Nachwirkungen. Gotti musste sich für seinen zweiten Gesamterfolg beinahe entschuldigen und wurde für das Pantani-Lager zur persona non grata. Nie wieder sollte der schüchterne Italiener in den Kampf um ein Giro-Podium eingreifen. Doch viel erheblicher traf es Pantani und sein Umfeld. Trotz gelegentlicher Lichtblicke rutschte der Italiener in Depression und Drogensucht ab. Seine Ehe zerbrach, Pantani wurde immer mehr in Doping-Ermittlungen verstrickt und soll beim Giro 2001 auf seinem Hotelzimmer mit einer Insulinspritze hantiert haben.

Bis heute kämpft Pantanis Familie um eine Art Rehabilitation, versucht, den Tod des Radsportlers am 14. Februar 2004 dem Wirken dunkler Mächte zuzuschreiben – ein Geheimbund soll verhindert haben, dass Pantani belastende Aussagen über Lance Armstrong macht.

Bis heute gilt diese Sachlage: Der größte Bergfahrer seiner Generation starb allein in einem Hotelzimmer in Rimini an einer Überdosis Kokain. Ein Selbstmord gilt als wahrscheinlich.


Wer kennt sie nicht, die sportlichen Heldentaten von Fausto Coppi und Gino Bartali, von Alfredo Binda, Felice Gimondi und Eddy Merckx? Sie alle prägten die 100-Jährige Geschichte des Giro d’Italia maßgeblich. Doch auch in der jüngeren Historie der Italien-Rundfahrt findet sich jede Menge Stoff für weitere Kapitel. radsport-news.com lässt anlässlich des Giro-Jubiläums einige dieser geschichtsträchtigen Momente wieder aufleben.

Mehr Informationen zu diesem Thema

27.05.2017Ganz groß in der zweiten Reihe

(rsn) - Die jüngere Geschichte des Giro d’Italia war eng verknüpft mit Namen wie Marco Pantani, Ivan Gotti, Gilberto Simoni, Jewgeni Berzin und Pavel Tonkov. Im elften und letzten Kapitel dieser R

26.05.2017Die Revolte des kleinen Prinzen

(rsn) - Bei der Italien-Rundfahrt 2004 erwartete das Publikum den erneuten Zweikampf zwischen Gilberto Simoni und Stefano Garzelli, die sich bereits im Jahr zuvor duelliert hatten. Simoni hatte deutli

25.05.2017Die Stunde des Stellvertreters

(rsn) - Die Ausgangslage vor dem Giro d’Italia 2000 war aus mehrerlei Gründen spannend. Die Italiener fieberten einerseits der Rückkehr des 1999 wegen zu hohen Hämatokritwerts ausgeschlossenen Ma

22.05.2017Gottis großes Ding

(rsn) - Vor dem Giro d´Italia 1997 war kein glasklarer Favorit auszumachen – hinter jedem der Anwärter auf den Gesamtsieg stand ein kleineres oder größeres Fragezeichen. Das kleinste war sicherl

19.05.2017Die zehn rosaroten Tage von "Opa“ Heppner

(rsn) - Einen wechselhafteren Giro als jenen des Jahres 2002 hat es wohl nie vorher und auch nie mehr danach gegeben. Ein Favorit nach dem anderen wurde entweder aus dem Rennen genommen, brach in den

18.05.2017Showdown am Berg der Champions

(rsn) - Vor dem Giro d’Italia 1998 waren die Favoriten auf den Gesamtsieg schnell ausgemacht: Die Gewinner der beiden Vorjahre, Ivan Gotti und Pavel Tonkov, der Gewinner der Spanien-Rundfahrt 1996 u

15.05.2017Ullrichs ungewollte Abschieds-Gala

(rsn) - Im Jahr 2006 bestritt Jan Ullrich seinen zweiten und letzten Giro d’Italia. Es sollte sein vorletztes Profirennen überhaupt sein. Und er verabschiedete sich mit einem sensationellen Sieg vo

08.05.2017Ein Taktik-Fuchs und zwei Streithähne

(rsn) Die 1995er-Auflage des Giro d´Italia erlebte den ganz großen Auftritt des Schweizers Tony Rominger, war aber ebenso geprägt vom Streit der Gewiss-Kapitäne Jewgeni Berzin und Piotr Ugrumov.

05.05.2017Mortirolo 1994 - die Geburtsstunde des Piraten

(rsn) - Der Giro d’Italia 1994 markierte einen Wendepunkt für die Tifosi. Mit Marco Pantani ging ein Stern am Radsporthimmel auf, der die der übrigen Idole der italienischen Fans – allen voran C

04.05.2017Schnee am Gavia - der Tag, an dem die großen Männer weinten

(rsn) - Wer kennt sie nicht, die sportlichen Heldentaten von Fausto Coppi und Gino Bartali, von Alfredo Binda, Felice Gimondi und Eddy Merckx? Sie alle prägten die 100-Jährige Geschichte des Giro dâ

Weitere Radsportnachrichten

13.05.2024Mit Rouvy Grand-Tour-Recon im Wohnzimmer?

(rsn) - Analoge und digitale Welten verschränken sich immer mehr, auch beim Radsport. Auf besondere Weise dreht Rouvy mittlerweile die Schraube weiter. Auf der 2017 von den Brüdern Petr und Jiri Sam

13.05.2024Bergankunft Nr. 3: Kurze Etappe, langer Schlussanstieg

(rsn / ProCycling) – Schon in der ersten Woche des 107. Giro d´Italia hat es Ausreißversuche gegeben, die von Erfolg gekrönt waren. Doch erst die 10. Etappe durch den südlichen Apennin weist ein

13.05.2024Erholter Démare kehrt in Dünkirchen ins Feld zurück

(rsn) – Nachdem er aufgrund von Erschöpfungserscheinungen seine Klassikerkampagne bereits nach Gent-Wevelgem am 27. März hatte beenden müssen, kehrt Arnaud Démare (Arkéa - B&B Hotels) in seiner

13.05.2024Thomas kritisiert Neapels Straßen: “War ein absolutes Gemetzel“

(rsn) – Ein astreiner Massensprint und breite Straßen auf den letzten Kilometern: Auf den ersten Blick war das Finale der 9. Etappe beim Giro d´Italia in Neapel nichts Besonderes. Doch im Peloton

13.05.2024Die letzten Hügel taten Milans Beinen weh

(rsn) – Im vergangenen Jahr musste sich Jonathan Milan in Neapel am Ende der damaligen 6. Giro-Etappe Mads Pedersen geschlagen geben. Damals stand der Italiener noch bei Bahrain Victorious unter Ver

13.05.2024Bringt der Flèche du Sud den erhofften “Bumms“?

(rsn) - Gleich fünf der neun deutschen Kontinental-Teams waren in der vergangenen Woche beim Fléche du Sud (2.2) dabei. In Luxemburg standen sie allerdings zumeist im Schatten ihrer für internatio

12.05.2024Trotz widriger Umstände rast Kooij beim Giro zum ersten Sieg

(rsn) - Die ersten beiden Massensprints des diesjährigen Giro d’Italia (2. UWT) liefen nicht nach dem Geschmack von Olav Kooij und seinem Team Visma – Lease a Bike. Doch die dritte Chance konnte

12.05.2024Krieger bei Sturz auf 9. Giro-Etappe schwer verletzt

(rsn) – Nach einem schweren Sturz im Finale der 9. Etappe musste Alexander Krieger mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Wie sein Team Tudor am Abend auf X mitteilte, sei der St

12.05.2024Auch ohne Sieg ist Buchmann ein Gewinner der Ungarn-Rundfahrt

(rsn) – Den Frust über seine Giro-Ausbootung hat Emanuel Buchmann (Bora – hansgrohe) in viel Angriffslust umgewandelt. Nachdem er bereits am 1. Mai bei Eschborn-Frankfurt (1.UWT) mit einer offens

12.05.2024Kooj triumphiert im Sprint-Krimi von Neapel vor Milan

(rsn) – Olav Kooij (Visma – Lease a Bike) hat die 9. Etappe des 107. Giro d’Italia im Massensprint gewonnen. Nach 214 Kilometern mit Start in Avezzano und Ziel in Neapel jagte er auf den letzten

12.05.2024Flèche du Sud: Teutenberg-Team am Schlusstag auf 1-2-3

(rsn) – Der Flèche du Sud (2.2) ist für viele der deutschsprachigen Fahrer und Teams erfreulich zu Ende gegangen. Am Schlusstag feierte Tim Torn Teutenberg mit seinem Team Lidl – Trek Future Ra

12.05.2024Narvaez: “Manchmal klappt es und manchmal nicht“

(rsn) – Rund 30 Meter fehlten Jhonatan Narvaez (Ineos Grenadiers) im Finale der 9. Etappe des Giro d’Italia (2.UWT) – stattdessen ging der Sieg an Olav Kooij (Visma – Lease a Bike). Die letzte

RADRENNEN HEUTE

    WorldTour

  • Giro d´Italia (2.UWT, ITA)
  • Radrennen Männer

  • Tour d´Algérie (2.2, DZA)