Interview + NEU: Verlosung!/ 10 Bücher

Herman Seidl: Der Fotograf, die Fans und die Tour

Von Bernhard Flieher

Foto zu dem Text "Herman Seidl: Der Fotograf, die Fans und die Tour"
„Warten auf Godeau – 30 Jahre am Straßenrand bei der Tour de France“ ist im DuMont Buchverlag erschienen.

04.07.2022  |  Ein Bildband über die Tour de France, ohne dass man einen Radrennfahrer sieht? Geht das? Dass es geht, zeigt der Salzburger Fotograf Herman Seidl. In seinem neuen Buch "Warten auf Godeau" (DuMont Buchverlag) reisen wir, als "Gefangene der Landstraße", während der Tour de France durch schäbige Vorstädte und liebliche Dörfer ebenso wie auf hohe Alpenpässe.

Gleich zu Anfang ein kleiner Tip für alle an unserer Verlosung interessierten Leser/innen: Wie immer ist eine Frage zu beantworten, um eines der zehn Exemplare von Herman Seidls Buch zu gewinnen, die sich heute aus dem Interview ergibt. Viel Spaß beim (aufmerksamen;-) Lesen! Alles weitere am Ende des Gesprächs...

Herman Seidl war in 30 Jahren, zwischen 1987 und 2017, 25-mal als Fotograf bei der Tour de France, seine Bilder wurden teils weltweit publiziert. Wer wie ich immer wieder mit Seidl unterwegs war, erlebte einen Fotografen, der auch in die andere Richtung schaut, an den Straßenrand. Dort steht und feiert das Publikum. Nur das Publikum, fragt man sich also. Und schnell wird klar: Ja, nur das Publikum - denn das ist die Seele dieses so erstaunlichen Ereignisses namens Tour de France.

Herr Seidl, Sie waren in 30 Jahren – zwischen 1987 und 2017 – 25-mal als Fotograf bei der Tour de France. Wie sind Sie dazu gekommen?

Herman Seidl: Ich habe neben dem Studium für Medien in Salzburg schon vorher ein paar Jahre als Freelancer gearbeitet. Weil ich mich im Radsport sehr gut auskannte, bin ich auch zu internationalen Radrennen ins nahe Ausland gefahren. Die Fotos habe ich verschiedenen Medien angeboten. Damals steckte man die Bilder in ein Kuvert und hat sie um die ganze Welt geschickt – und manchmal ist auch eines erschienen. Jedenfalls wurden manche so auf mich aufmerksam.
Im Jahr 1986 wurde dann in Wien das Fahrrad-Magazin „Pedal“ gegründet, die schickten einen Fotografen zu Tour, der sich dachte; Naja, das fährt man halt einfach hin. Aber die Tour ist eine Art Hochsicherheitstrakt. Der Fotograf wurde sogar kurz verhaftet, kam ohne ein Bild zurück. Weil das Magazin schon auf meine Bilder aufmerksam geworden war, fuhr ich dann im Jahr darauf hin.

Die Tour de France ist ein Radrennen - aber man sieht in Ihrem Bildband „Warten auf Godeau“ nur Zuseher, aber keinen einzigen Fahrer. Wieso? 

Als ich 1987 das erste Mal dort war, haben mich vom ersten Moment an die Menschenmassen fasziniert, die da am Rand der Straßen stehen, in jedem Dorf, in jeder Kleinstadt, auf den Bergen. Dieser enorme Enthusiasmus hat mich berührt und begeistert, es bereiten sich Leute monatelang vor, weil die Tour durch den Ort kommt. So etwas kannte ich nicht. Dass das bei der Tour nicht in einem Fußball-Stadion, sondern in der freien Natur stattfindet, dass die Berge und Ortschaften zur Arena werden, das hat mich gefesselt.

Wer ist eigentlich dieser Godeau, auf den da laut dem Buchtitel gewartet wird?

Das ist eine Anspielung auf das Theaterstück „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett, der war ja ein großer Radfan. Es gibt die Anekdote – oder eher Legende –, dass Beckett sich einmal eine Etappe der Tour ansah, und ein paar Zuschauer blieben noch stehen, als das Peloton längst vorbei war. Beckett fragte, worauf sie warten. "Auf Godeau!", sagten sie. Es gab damals tatsächlich einen französischen Radrennfahrer namens Roger Godeau. Er fuhr allerdings nie die Tour de France, aber vielleicht ereignete sich die Szene bei einem anderen Rennen.

Welche Rolle spielt das Publikum aus Ihrer Sicht bei der Tour?

Es ist ganz einfach die Seele der Tour, die eine so enorme Geschichte hat. Der Philosoph Roland Barthes beschreibt, welch heroischer Mythos sich da aufbaut. Und anders als in anderen Sportarten sind die Menschen am Rand der Straße wesentlicher Teil davon. Wie sehr das Publikum diese Seele ist, war in der Pandemie zu erleben: Wenn da nur ein paar am Rand stehen, ein Zieleinlauf ohne Menschen, dann fehlt ein wesentlicher Teil des Ganzen. Dann ist es leblos. Aber eben dieses Leben, das was die Menschen machen, interessiert mich.

Was interessierte Sie bei Ihrem Blick aufs Publikum? 

Es war jedenfalls keine Gegenmittel zum Warten, wie manche vermuten könnten. Ich bin zur Fotografie über das Studium der Kommunikationswissenschaften in Salzburg gekommen – also mit einem sehr journalistischen Anspruch und Hintergrund. Da begegnen einem dann als Inspiration auch Fotogrößen wie Henri Carter Bresson oder Robert Capa.

Robert Capa, einer berühmtesten Kriegsfotografen des 20. Jahrhunderts, war 1939 als Fotograf bei der Tour...

Ja, auf diesen Bildern, es sind nur wenige, ist auch gut zu erkennen, worum es geht: Capa - und andere große Fotografen - hatten egal bei welchem Ereignis sie waren, immer einen humanistischen Aspekt in ihrem Blick. Sie besaßen die große Fähigkeit, ein Ereignis nicht über das Ereignis selbst, sondern über Umwege zu erzählen. Diesen humanistischen Blick von Cartier-Bresson und Capa habe ich mit meiner Fotografie fortgesetzt. Und so kommt man halt immer nahe zu den Menschen.

Und die Rennfahrer im Peloton?

Sicher, das war der Job, die Fotografien von den Sportlern brachten das Geld. Die anderen Bilder stillten mein persönliches Bedürfnis, das Ereignis einzufangen. Für den Sportfotografen wechseln sich die Generationen ab, da kommen und gehen Stars und Favoriten. Der Sieg ist Vergangenheit, wenn am nächsten Tag die nächste Etappe bevorsteht: Sieger gibt es jeden Tag einen neuen. Das Publikum, die Begeisterung bleiben, ewig.

Kann man also mit Bildern der Zuschauerinnen und Zuschauer in den Kulissen der französischen Landschaft vom Wesen des Ereignisses mehr erzählen als mit einem Siegerfoto? 

Wahrscheinlich schon. Dafür gibt habe ich ein aktuelles Beispiel von der aktuellen Team-Präsentation in Kopenhagen. Eine Foto-Agentur schickte ausschließlich Bilder von den teilnehmenden Stars: Man sah nur die Rennfahrer in einer Reihe stehen und dazu den Bei-Text: „Begeistertes Publikum in Kopenhagen begrüßt die Teams.“ Publikum war aber keines zu sehen. Gleichzeitig sah man in Sozialen Medien das Video eines Fahrers, der mit seinem Team auf das Podium fährt. Der hat mit seinem Smartphone die Situation besser eingefangen als die Fotografen, die bloß die Stars ablichten.

In Ihrem Bildband machen Sie das Gegenteil. Wann kam die Idee, aus den Bildern vom Straßenrand ein Buch werden zu lassen?

Die erste Idee hatte ich schon vor zehn Jahren, aber damals hat sich das einfach nicht ergeben. Ich war auch mit manchen Bildern, die ich schon hatte, nicht ganz zufrieden und wollte bestimmte Szenen noch einmal fotografieren, beziehungsweise Bilder aus allen Regionen Frankreichs haben. Und für mich ist die Tour ja auch so eine Art Heimat, weil ich so viele Plätze gut kenne, weil ich auf manchen Alpenpässen zehn, elf Mal gewesen bin.

Ihre Fotografien sind alle genau überlegt, nicht einfach nebenbei gemacht...  

Sie sind ganz und gar nicht nebenbei entstanden. Es gibt Tage, an denen schafft man zwei, drei gute Bilder, an anderen Tagen schafft man gar keines. Was ich vermeiden wollte war, dass die Menschen direkt in die Kamera schauen. Ich will als Fotograf auf diesen Bildern verschwinden, also unsichtbar sein. Wer durchs Buch blättert, soll das Gefühl haben, dass er selbst Zeuge der Situation ist. Um das zu erreichen, muss man sehr viel Geduld aufbringen. Im ersten Moment, wenn Menschen sehen, dass ein akkreditierter Fotograf mit einer Kamera erscheint, jubeln sie sehr oft und verhalten sich anders. Ich wollte aber den Moment der Realität einfangen, keine Momente der Inszenierung.

Im Buch sind rund 80 Bilder zu sehen. Wie viele gibt es insgesamt? 

Naja, ich glaube, ich könnte noch drei Bücher machen.

Sie fuhren einst als Amateur selbst Rennen. Hilft das bei der Arbeit als Fotograf? 

Man muss sich in der Materie auskennen, um etwas tiefgründig beschreiben und fotografieren zu können. Ich wäre wohl ein schlechter Ski-Fotograf, weil mich Skifahren nicht so interessiert. Weil ich selbst Rennrad gefahren bin, weiß ich, wie es ist, einen steilen Berg hinaufzufahren oder mit 100 km/h in einer Abfahrt hinuner zu brausen. Es ist eine Grundbedingung für gute Fotografie, dass man sich auskennt. Ein Vergleich mit der Popmusik: Es ist eine großer Unterschied, ob ich zu den Rolling Stones gehe und vor der Bühne für zwei, drei Songs in der ersten Reihe Fotos mache, oder ob ich mit der Band auf Tournee bin. Wenn ich dem Ereignis oder Menschen wirklich nahekomme, wenn ich auf so einer Tournee Höhen und Tiefen mitbekomme, dann kann ich eine gute Geschichte transportieren.

Wie hat sich in den vergangenen 30 Jahren Ihre Einstellung zum Radsport verändert?

Ich hatte ein großes Wissen, war aber auch relativ naiv. Ich wusste, dass es immer die eine oder andere Trickserei gibt. Als dann in den 1990er Jahren die "Sportmedizin" die Trainingslehre ersetzte, war ich zunächst verwundert und dann mit der Ära Armstrong nur mehr angewidert. Das hat schon zu einer gewissen Ernüchterung geführt, dass man einen Sport fotografiert, bei dem eine Zeitlang jedes Ergebnis „erschummelt“ war. Dann bin ich auch einige Jahre nicht mehr hingefahren. Im Publikum aber, in der Begeisterung, da liegt eine Unschuld und eine Ehrlichkeit, die alles überdauert, die immer da ist. Das hat mich letztlich immer mehr interessiert.

Wie hat sich die Arbeit als Fotograf verändert?

Da passierten große Umbrüche. Ich begann ja noch mit Schwarz-Weiß-Fotografie; wir haben, wenn wir endlich im Hotel waren, die Badezimmer zu Dunkelkammern gemacht. Danach kam die Farbfotografie auf Dia-Positiv, das war lange das klassische, fotografische Medium, weil es für den Druck unkompliziert zu verwenden war. Dann kam 2000, 2001 die Wende von der analogen und digitalen Fotografie.
Davor war vor allem die Distribution die große Herausforderung. Einmal schickte ein Wiener Nachrichten-Magazin jemanden mit dem Auto aus Wien, um einen Film für eine Story über den Österreicher Peter Luttenberger abzuholen, damals Fünfter in der Gesamtwertung: 1500 Kilometer nach Frankreich, dort bei mir ein Kuvert mit Fotos abholen, 1500 Kilometer zurück nach Wien. Das ist quasi die Strecke einer ganzen Tour de France. Heute sieht man oft schon am Morgen die ersten Bilder einer Etappe in den Sozialen Medien.

Es wird alles immer schneller...

Die Zeit hat sich extrem beschleunigt. Der österreichische Medien-Theoretiker Peter Weibel hat in seinem Buch 'Die Beschleunigung der Bilder' in den 80er Jahren beschrieben, wie Bilder immer schneller und massenhaft durch den digitalen Orbit kreisen werden. Das Digitale erhöhte den Druck auf die Fotografen immens, die sofortige Verfügbarkeit der Bilder gibt jetzt den Takt vor. Das hat auch Einfluss auf die fotografische Arbeitsweise: Ein Klick und die Bilder sind in aller Welt. Für mich war das hiern nicht relevant, meine Zuschauer-Bilder musste ich nirgends hinschicken.

Sie waren zuletzt 2017 bei der Tour. Wollen Sie mal wieder hin? 

Jede Tour empfand ich wie ein großes Abenteuer, das Rennen dauert drei Wochen, aber mit Vorbereitung, Nachbereitung und Erholung dauert es fünf Wochen. Das Erstaunliche ist, dass man, wenn man nach drei Wochen in Paris am Ziel steht, einerseits sehr froh ist, dass es aus ist. Man ist einfach müde, es ist der anstrengendste Job, den ich je machte, weil alles in Sekundenschnelle passiert und man nichts wiederholen kann.
Man ist also nach drei Wochen am Rand der Straße froh, dass es vorbei ist. Und doch gibt es auch ein anderes Gefühl: Man hat eine Traurigkeit, dass dieses gemeinsame Durchs-Land-Fahren auch zu Ende ist. Dabei entsteht eine Euphorie durch die Energie der Menschen und der Fans, und es gibt immer wieder einen Adrenalin-Ausstoß, der dann plötzlich aufhört. Man ist paradoxerweise erleichtert, aber auch traurig. Ich habe ausgerechnet, dass ich rund 150 000 Kilometer in diesen Jahren bei der Tour zurückgelegt habe, das sind vier Erdumrundungen. Das reicht, im Moment jedenfalls.

"Warten auf Godeau – 30 Jahre am Straßenrand der Tour de France" von Herman Seidl ist im DuMont Buchverlag erschienen. Es hat 176 Seiten mit 78 Bildern und kostet 20 Euro.

Bernhard Flieher ist Kultur-Redakteur der Salzburger Nachrichten; er schreibt auch Kolumnen über das Radfahren und begleitete Herman Seidl als schreibender Reporter bei einigen Radrennen.

Hier nun die Frage für die Buch-Verlosung: Wie oft hat Herman Seidl in seinen 30 Jahren bei der Tour die Erde umrundet? Die Antwort mailen Sie wie immer an gewinnspiel@radsport-news.com   Einsendeschluss ist Freitag (8. 7.) um 18 Uhr; der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Viel Glück!

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