Müllers Tour-de-Singkarak-Tagebuch

Die 44 Kehren vergingen trotz Regen und Nebel wie im Flug

Von Robert Müller

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Robert Müller | Foto: Robert Müller

07.11.2018  |  (rsn) - Hallo aus Agam, West-Sumatra, Indonesien! 

Heute stand mit 144 km Länge eine eher kurze Etappe auf dem Programm, die jedoch mit der gefürchteten Bergankunft „44 Kelok“ enden sollte. Dabei handelt es sich um einen Anstieg, der vom Maninjau Vulkankratersee in 44 Haarnadelkurven über 650 Höhenmeter auf den Kraterrand hinauf führt. Eine Angelegenheit für die Berg- und Gesamtklassementfahrer, wozu ich eindeutig nicht gehöre. 

Daher wollte ich es in die Gruppe des Tages schaffen, um auf die drei Sprintwertungen, die auf den ersten flachen 110 km verteilt waren, fahren zu können und Punkte zu sammeln. Vor dem Start erklärte mir Lucas Carstensen vom Team Bike Aid, dass er nicht mehr auf das Grüne Trikot fahren würde und daher nicht versuchen würde, in die Gruppe zu kommen. Aber ich traute seiner Aussage nicht ganz.

Nach der Neutralisation ging ich, wie gestern, die Startattacke mit und es sah gar nicht schlecht aus. Aber erneut wurden wir wieder gestellt. In der Folge hielt ich mich stets weit vorne auf, ging sehr viele Attacken mit und fuhr harte Führungen, wobei ich meine Körner mit beiden Händen auf die Straße warf. Doch es half alles nichts: Ich konnte mich einfach nicht entscheidend mit einer Gruppe absetzen. Häufig klappt es gerade dann nicht, wenn man es mit der Brechstange versucht, sondern eher, wenn man es wie ein Spiel sieht und pokert, wozu ich heute aber nicht entspannt genug war.

Da also noch keine Gruppe in Front lag, war ich auf einen Sprint aus dem Feld heraus auf die erste Sprintwertung, die nach 22 km kommen sollte, gefasst. Aber es war weit und breit kein Schild zu sehen. Erst 2 km später sah ich gerade noch ein handgeschriebenes Schild, dass die Sprintwertung in einem Kilometer ankündigte, doch ich war zu weit hinten und vorne hatten sich drei Fahrer leicht gelöst. Somit konnte ich mir als Vierter nur noch einen läppischen Punkt holen. Nach diesen harten 25 km und der falschen Angabe auf meinem Lenker hatte ich die Nase voll, musste mir erst einmal eine Pause gönnen und ließ mich ins Feld zurückfallen.

Natürlich ging kurz darauf die Gruppe des Tages - ohne mich, aber dafür mit Lucas Carstensen, und auch mit meinem Teamkollegen Lex Nederlof. Er ist eine Legende, denn er fährt seit 39 Jahren ununterbrochen Radrennen auf der ganzen Welt und ist mit 52 Jahren der älteste Continental-Profi weltweit. Dabei ist er immer noch konkurrenzfähig, zwar nicht mehr so spritzig wie einst, aber besonders am Berg noch richtig stark. Dort hängt er mich auch ab, wenn er will. Nach wie vor fährt er knapp 30.000 km pro Jahr und ist verdammt mager, was ihm leichter fällt, seit er vor 13 Jahren nach Thailand gezogen ist. Er ist gleichzeitig Fahrer und Manager des NEX CCN Teams und kümmert sich hervorragend um alle Belange, wobei ihm sein großes Netzwerk zu gute kommt.

Nachdem die Gruppe also ohne mich stand, war mein Rennen nach 30 km gelaufen, denn es gab für mich nichts mehr zu gewinnen. Nun galt es, so kraftsparend wie möglich ins Ziel zu kommen, sich gut zu verpflegen und die Zeit für ein paar Gespräche mit anderen Fahrern zu nutzen. Außerdem konnte ich erneut die wunderschöne Landschaft genießen, erst die Ausblicke auf die Küste, später auf den Maninjau Kratersee. 

Wie in Indonesien üblich, standen unheimlich viele begeisterte Zuschauer am Straßenrand, wobei mir besonders die zahlreichen Schulklassen mit ihren Trommeln und lauten Anfeuerungsrufen gefallen. Trotzdem zogen sich die 80 km bis zum Beginn des ersten Teils des Anstiegs ziemlich in die Länge.

An der Spitze lief die Gruppe, die mit 15 Fahrern eindeutig zu groß war, nicht richtig rund, und so wuchs der Abstand nicht über 2 Minuten. Lucas konnte die beiden Sprintwertungen nicht gewinnen und Lex ihm sogar Punkte wegnehmen. Im Feld kontrollierte das Team des Führenden, Sapura aus Malaysia, wie es das Protokoll vorsieht, das Tempo, wobei sie sich nur zu viert abwechseln konnten. Denn sie waren nur mit fünf Fahrern gestartet und das Gelbe Trikot verrichtet natürlich keine Führungsarbeit. 

Dafür übernahm der Führende die Rolle des Wasserträgers und versorgte seine Teamkollegen mit Flaschen aus dem Auto. Dreimal sah ich ihn schwer bepackt nach vorne fahren, generell ein seltener Anblick für den Mann in Gelb. Was ich noch sah, war ein Fahrer, der es geschafft hatte, seine beiden Rückennummern mit insgesamt nur drei Sicherheitsnadeln am Trikot zu „befestigen“ - ich kenne Fahrer, die zehn Nadeln für eine Nummer brauchen.

Beinahe war ich froh, als endlich der erste Teil des Anstiegs auf 500 m hinauf zum See begann, den ich noch im Feld überstehen wollte, was allerdings kein Problem war. Oben am See holten wir den ersten Teil der ehemaligen Spitzengruppe um Lucas ein, Lex hielt sich jedoch noch vorne. An dieser Stelle ein Tipp an Lucas: Wenn du Flaschen nach vorne bringst, solltest du in Indonesien eher nicht "Vorsicht“ rufen, sondern „Service“ schreien - wie alle anderen. 

Auf dem 15 km langen Flachstück um ein Drittel des Sees herum begann es dann stark zu regnen, was für mich das optimale Wetter für den Schlussanstieg darstellte.

Als dieser mit der ersten von den 44 durchnummerierten Kehren begann, ließ ich das Feld ziehen und schlug ein sehr gemächliches Tempo an, da von den großzügigen 20 % Karenzzeit überhaupt keine Gefahr drohte. Anfangs konnte ich noch die Aussicht auf den See unter mir bewundern, später wurde mir diese jedoch im strömenden Regen von Wolken und Nebel genommen. Mit Daniel Bichlmann ins Gespräch vertieft, verging die Zeit wie im Flug, obwohl ich für die 9 km Anstieg über elf Minuten länger brauchte als letztes Jahr, als ich noch auf Zug gefahren war.

Etwa 50 m vor dem Ziel fiel direkt vor uns eine Fahne auf die Zielgerade und blockierte fast die gesamte Straße, was Daniel all seiner Chancen beraubte, mit mir noch um den prestigeträchtigen 77. Platz und das wertvolle Attribut „drittbester Deutscher“ zu sprinten. Bike Aid konnte mit Adne van Engelen auf Platz 2 erneut einen Podiumsplatz einfahren, nun fehlt ihnen nur noch die oberste Stufe. Was mich morgen erwartet, weiß ich noch nicht so genau, da wir die Rennbibel für unser Zimmer eingebüßt haben.

Geschenk des Tages: ein Schal mit der Konsistenz eines Tuchs.

Morgen gleiche Stelle, gleiche Welle 

Gez. Sportfreund Radbert

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